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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1053–1056

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Reichenbach, Gregor

Titel/Untertitel:

Gültige Verbindungen. Eine Untersuchung zur kanonischen Bedeutung der innerbiblischen Traditionsbezüge in Sprüche 1 bis 9.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 476 S. 23,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 37. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-374-02853-5.

Rezensent:

Jan-Dirk Döhling

Um die Biblische Theologie und die Kategorie des Kanons ist es ruhig geworden. Imponierten sich in der alttestamentlichen Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jh.s im Gefolge literaturwissenschaftlicher Trends und angesichts stetig vertiefter religions- und literaturgeschichtlicher Diversifizierungen die alten Fragen nach der Einheit der Schrift, nach Wahrheit und (Religions-)Geschichte, dem Verhältnis von Diachronie und Synchronie aufs Neue und führten an nahezu jedem hier denkbaren Pol zu prononcierten Entwürfen, so schien das Pendel seither von den großen Fragen zur detaillierten Einzelarbeit zurückgeschwungen zu sein. Dies kann den Überdruss an hypostasierten Fundamentalalternativen spiegeln, doch haben sich auch die neueren Zugänge zunehmend im Fach etabliert, sich methodisch entwickelt und die klassischen Methoden mit Aspekten ihres Fragens affiziert. Dies macht Detailforschung möglich und nötig; doch muss diese die großen Fragen nicht außer Acht lassen.
Ihnen jedenfalls stellt sich G. Reichenbachs Leipziger Promotionsschrift des Jahres 2010, für den »die Zukunft der christlichen Theologie mit davon abhängt, wie es ihr gelingt, nach der Gültigkeit biblischer Texte und theologischer Aussagen zu fragen« (5). R. fragt, was als »tragende[r] Grund der Hebräischen Bibel«, als »Zu­sammenhang von Faktoren«, »die zeitübergreifend für Einzeltexte und die Gesamtheit die konstitutive Gestalt der Hebräischen Bibel bilden«, gelten kann (14). Hierzu analysiert er die innerbiblischen Traditionsbezüge in Spr 1–9 als einen innerbiblisch-theologischen Querschnitt spätpersischer Zeit.
Die exegetisch dichte und entschlossen theologische Studie analysiert Bezugnahmen von Spr 1–9 auf Reden des Dtn (Kapitel IV, 125–196), Gen1 (197–227) und die Prosareden des Jer (228–294), betritt also den Fragenkreis der innerbiblischen Auslegung und ihrer kanon-hermeneutischen Weiterungen.
Voran gehen eine Einleitung und ein Abriss zum Forschungsstand zu Spr 1–9 (14–28). Er korreliert Studien von Robert, Buchanan, Baumann und Maier und kleinere Beiträge von Fishbane und Wilson, Harris, Bauks/Baumann eher thetisch mit der Themafrage, macht mit knappen Argumenten Jer, Dtn und Gen 1 als relevante Textbereiche im Gegensatz zu Gen 37 ff. und Teilen von Dt-Jes und des Psalters aus. Als Forschungsdesiderat gilt R. der Charakter der Bezüge, vor allem aber ihre Funktion im rezipierenden Text bzw. bei den Rezipierenden. Diese müssten in den Fokus rücken.
Eine weite hermeneutisch-theologische Grundlegung (40–103), in der die Grundentscheidungen der Studie fallen (51–88), bereitet dies vor. R. entwickelt gegen Childs, Rendtorff und Steins (40–50) im Anschluss an Sanders’ Kanonverständnis, das am ehesten erlaube, die historische Dimension der Text-Leser-Relationen zu reflektieren (51–64), die Kategorie der Gültigkeit als heuristischen Schlüssel. Er unterscheidet sie von der Kanonizität der Endgestalt als protokanonische Eigenschaft innerbiblisch rezipierter Texte, »in je konkreten Bezügen zu stehen und für diese von Bedeutung zu sein« (59). Diese Gültigkeit, die er den Termini Anthologie (Chr. Maier, A. Robert), und Mussivstil (T. Willi) zur Deskription der Bezugnahmen vorzieht (301 ff.353), lasse sich textlich in den Aspekten der Stimmigkeit (im Sinne der strukturellen und terminologischen Passung), der Verbindlichkeit (im Sinne numerischer Dichte), der Tragfähigkeit (im Sinne des textkonstitutiven und lebensrelevanten Charakters) und der Verstehbarkeit (im Sinne der Nachvollziehbarkeit für Dritte) aufweisen (63–65.89–91). Sie sei mit einer zwischen Traditions- und Redaktionskritik angesiedelten »Funktionskritik« (90) zu erfassen. Die so bestimmte Gültigkeit führt R. an klassische Fragen zurück, die seit Gabler nach dem Proprium der Exegese, seit dem 19. Jh. nach der Mitte der Schrift (80–88) und in der Systematischen Theologie seit Schleiermacher nach dem Verhältnis von Erfahrung und Offenbarung gestellt werden. Jeweils gilt ihm die Reflexion auf die Gültigkeit als klärendes missing link (vgl. bes. 94 f.).
In diesem begrifflich-methodischen Setting wendet sich R. zu­erst den als »überwiegend« spätnachexilisch vorliegend gedachten (190 ff.) dtn Mosereden zu (IV, 125–196). Bezüge zu Spr 1–9 sieht er in den Lehrpersonen Salomo und Mose (126–142), im Charakter der Lebenslehre mit dem Akzent auf Hören und Bewahren der Gebote, der (elterlichen) Erziehung (143–164) und dem Wegmotiv (165–189) als integrierend-differenzierendem Bild grundlegender Orientierung. Die dtn Texte würden angesichts der zeitgenössischen Suche nach Recht und Gerechtigkeit (Spr 2,9) weder ausgelegt noch aktualisiert, sondern in Spr 1–9 als Folie und Vorlage der eigenen Botschaft als einer »potentiell überzeugende[n] und gültige[n] Lehre« rezipiert (192). Bezüge von Spr 1–9 zum als spätexilisch bzw. früh­-nachexilisch (221 f.) datierten Text Gen 1 (V, 197–227) macht R. im Vorweltkonzept (198–203), dem Werk- (204–208) und Ordnungscha­rakter (209–213) der Schöpfung, dem Stichwort (be)reschit (213–216) und den Vorwesen ruach bzw. chochma aus (216–225). So betreibe Spr 1–9 die »Legitimation der Weisheitsgestalt« als »Einbindung der Weisheit […] in die Weltschöpfung JHWHs« (223). Als Bezüge zu (Vorformen) der Prosareden in Jer 7,11; 18; 25,26 sieht R. die Verortung von Prophet und Weisheit im urbanen Raum (232–247), den Umkehrruf (247–260), die Gerichtsansage (260–270) und den Ruf zum Hören (271–283). Sie dienten dazu, Auftreten und Botschaft der Weisheit »vehemente Dringlichkeit« (287) zu geben. Der Jeremia der Prosareden sei als »Motivvorläufer« der poetischen Weisheitspersonifikation zu sehen (289–292). Nach der Korrelation der erhobenen Bezugnahmen mit den aufnehmenden weisheitlichen und den rezipierenden Dtr- und P-Trägerkreisen (VII.1–2, 295–331), deren Kontakt R. im Rück­griff auf Carr in der von »schriftgestützter Mündlichkeit« getragenen Schulkultur des alten Israels verortet (332–352), wendet er sich der Bedeutung der erhobenen Bezüge innerhalb des und für den Kanon bzw. für die Kanonisierung zu (VIII, 355–418). In primär diachroner Perspektive fasst R. die Funktion der Bezugnahmen als reziproke Interaktion einer in Spr 1-9 gespiegelten Vorstufe des Kanons. Diese lege sich nahe, da die Bezüge von Spr 1–9 auf Gen, Dtn und Jer diachron mit der Idee des ›Endes‹ der Prophetie und dem vermutlichen Abschluss der Tora konvergierten (364 f.). Sodann zeichnet R. seine Erträge in die Debatte um den Status der Weisheit in der Theologie- und Literaturgeschichte Israels ein. Sie zeigten an Spr 1–9 die enge Zugehörigkeit der Weisheit zum theologischen Denken Israels (367–376), ließen ein »kooperative[s] Netz« zu Tora und Prophetie er­kennen (403) und »einer Trennung von Erfahrungsweisheit und Offenbarungstheologie [im Alten Testament] widersprechen« (374). Vielmehr ergänze die Weisheit »als Individualperspektive […] die Kollektivperspektive« von Tora und Prophetie (402).
R. fasst diese Relation so dicht, dass er nicht nur das Selbstverständnis von Spr 1–9 anhand der Bezüge auf Dtn, Gen und Jer, sondern auch das Selbstverständnis der Tora und der Jer-Reden anhand von Spr 1–9 darstellen zu können meint. Die protokanonische Bezogenheit von Tora und Spr 1–9 lässt nach R. unter den Bedingungen des Staatsverlustes (402 ff.) für die spätpersischen Autoren die Verbundenheit der kollektiven und individuellen Lebenslehren und -perspektiven erkennen (391); die Bezogenheit auf die Jer-Reden mache die Dringlichkeit der Handlungsrevision und die Gefahr des Überhörens der Gottesworte plastisch (397 f.).
Die Zielfrage nach dem tragenden Grund der Hebräischen Bibel (407–413) spezifiziert R. abschließend als in Spr 1–9 hermeneutisch, historisch und sachlich greifbare Verbindung von Texten, Autoren und Rezipienten. Ein knappes Fazit, Stellen- und Literaturverzeichnis schließen sich an.
Die sorgfältige Studie, deren systematisierende Ambitionen ihr sprachlich nicht immer guttun, trägt dazu bei, die Bezüge von Spr 1–9 auf die oben genannten Texte zu profilieren und Spr 1–9 als mit wesentlichen literarischen Traditionen Israels verflochten zu erhellen. Infolge der Gültigkeitshermeneutik treten hier affirmative Kongruenzen stärker hervor als die R. durchaus bewussten (390.397 f.402–407) Transformationen der Bezugstexte in Spr 1–9. Dichter nachzuzeichnen wären m. E. für Dtn und die Jer-Texte die Dehistorisierung und Individualisierung der Gerichts-, Gehorsams- und Weg-Motive. Von Gen 1 her ließe sich der Charakter des Vorwesens als ›Lehrerin‹ und von Jer aus die in perserzeitlichem Kontext sprechende latente Entpolitisierung in Spr 1–9 profilieren. So käme auch in den Blick, ob und wie sich die Akzente der impulsgebenden Bereiche verschränken: Machen die dtn Bezüge Salomo als Sprecher von Spr 1–9 zum toratreuen König nach Dtn 17, wird der dtn Mose in Frau Weisheit hypostasiert und feminisiert?
Fraglich indes scheint mir, ob Gültigkeit ein terminologisch glücklicher und plausibel operationalisierbarer Begriff ist, mit dem sich nicht allein Texte ertragreich auslegen, sondern auch die Probleme der Geltung bearbeiten lassen. So mutig es ist, diese Frage an konkrete Textrelationen zu stellen, und so erhellend die Relevanzkonzepte konkreter Trägerkreise und (proto)kanonischer Netze sind, so wenig trennscharf erweisen sich m. E. in den teils redundanten Gültigkeitsanalysen die Kategorien der Stimmigkeit, Verbindlichkeit, Tragfähigkeit und Nachvollziehbarkeit (295–330). Begrifflich prädiziert Gültigkeit überdies nicht nur zeitgebundene Relevanz und Bedeutsamkeit, sondern auch starke Normativität. Die, teils auch bei Sanders (to take »the measure of the authority that the ancient tradition exercised«, Tora and Canon, Philadelphia 1972, XVII), offene Frage ist, wie und wieso ein historisch aufweisbares Gelten, das bei R. an die Stelle von Gablers überzeitlichen Wahrheiten zu treten scheint, schon Gültigkeit im engen Sinne verbürgt oder präfiguriert. Deutlicher (402 ff.) wäre auch zu fragen, ob nicht den Diskrepanzen und Widersprüchen zwischen Texten und Trägerkreisen (die im skizzierten Rahmen leicht als »ungültig« erscheinen könnten) ebenfalls höhere kanonische Bedeutung zu­kommt. Ein inhaltlich enger geführtes Gespräch auch mit intertextuellen Ansätzen würde hier Perspektiven bieten.
R.s Studie ist eine heuristisch anregende, detailreiche Basis für exegetische Anschlussfragen an und über Spr 1–9 hinaus. Sie verdient Respekt als Beitrag zur Kanonhermeneutik und -methodik, der das Fach von einem klug gewählten Gegenstand her an seine Grundfragen erinnert.