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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

1008–1011

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Allen, John L.

Titel/Untertitel:

Das neue Gesicht der Kirche. Die Zukunft des Katholizismus. Aus d. Amerikanischen v. B. Schellenberger.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2010. 494 S. 21,5 x 13,5 cm. Geb. EUR 29,99. ISBN 978-3-579-06550-2.

Rezensent:

Jürgen Werbick

Der renommierte Vatikan-Korrespondent John L. Allen unternimmt hier den Versuch, die »Trends« auszumachen, die sich nach seinem Urteil auf Selbstverständnis, Optionen und Gestalt der katholischen Kirche im 21. Jh. auswirken werden. Trends nennt er Entwicklungen von globaler Bedeutung, welche die ganze katholische Kirche – nicht nur die »Profis« – in ihrem Katholischsein bestimmen, das Engagement der Hierarchie und den Einsatz ih­rer institutionellen Ressourcen herausfordern, als Erklärungskontext für vielfältige Ereignisse und Entwicklungen fungieren können, Voraussagen ermöglichen und sich empirisch identifizieren lassen, ohne dass man sie schon mit einer Wertung verbindet. Der empirische Rückhalt bei der Bestimmung der Trends ist aus der Zu­sam­menschau quantitativer Parameter gewonnen, aber auch von starken Intuitionen und Einschätzungen darüber be­stimmt, auf welche Entwicklungen sich die katholische Kirche nach ihrem Selbst­verständnis einstellen muss. Die Kapitel zu den zehn Trends sind so aufgebaut, dass zunächst herausgearbeitet wird, »was den Trend antreibt und wie er sich auswirkt«, und danach eine Prog­nose gewagt wird, wie er die Entwicklung der katholischen Kirche mittel- oder langfristig mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit oder beim Eintreffen bestimmter Szenarien bestimmen wird.
Diese Methodik ist nicht wissenschaftlich hieb- und stichfest; und man wird sich bei den Prognosen mitunter auf unsicherem Boden fühlen. Aber man kann auch die methodischen Einwände zurückstellen und es darauf ankommen lassen, ob einem neue Perspektiven erschlossen und neue Fragestellungen aufgenötigt werden, mit denen man sich schon deshalb auseinandersetzen muss, weil sie vermutlich bedeutsame Entscheidungsprozesse in der katholischen Kirche mitbestimmen werden. Wenn man das Buch so zu lesen versucht, wird man womöglich mit einer Sicht der Dinge konfrontiert, die eigene Auffassungen davon, wie die katholische Kirche sich entwickeln sollte, nachhaltig irritiert. Auf dieses Irritationspotenzial will ich meine Besprechung fokussieren und die aufgeführten Trends nicht im Einzelnen referieren. Ich konzentriere mich auf die vier Merkmale, welche die katholische Kirche in Reaktion auf diese Trends vermutlich stärker ausbilden wird. Zusam­mengenommen könnten diese vier Merkmale – wenn A.s Trend-Diagnose stimmt – »zu einer Reihe von atemberaubenden Umwälzungen im katholischen Denken und Leben führen« (12).
Erstes Merkmal: die Globalisierung der Kirche zu einer tatsächlichen Weltkirche. Den differenziert dargestellten demographischen Entwicklungen folgend wird die Kirche deutlich südlicher werden: jünger, von einer Erfahrung des Kircheseins geprägt, die nicht primär vom Säkularismus herausgefordert ist, sondern von der Selbstbehauptung in einer dynamischen Konkurrenz vitaler religiöser Bewegungen auf dem religiösen Markt. Sie wird kaum Kompromisse mit dem im Westen dominanten Relativismus ma­chen, sondern sich hier entschiedener abgrenzen und in der Konkurrenz der Religionen nicht auf das Gemeinsame, sondern auf das Unterscheidende setzen: auf eine Identitätspolitik, die in den jungen Kulturen des Südens möglichst prägnante Erfahrungen davon vermitteln will, warum man als katholischer Christ/katholische Christin anders ist, anders lebt und glaubt. Im Sinne dieser Iden­-titätspolitik wird ein weniger kritisch-historisierender, stärker evangelikaler und entsprechend unmittelbarer Zugang zur Bibel die spirituelle Atmosphäre bestimmen. Die biblische Redeweise vom jetzt in der Geschichte handelnden Gott, von Mächten und Geistern, von den außerordentlichen Gaben des Heiligen Geistes wird das auch im katholischen Feld rasant sich erweiternde pentekostalistische Segment inspirieren und in der Überzeugung bestärken, dass eine darauf fokussierte Bibellektüre die allein authen­-tische ist. Diese pfingstliche Ausprägung des Glaubens wird sich vor allem im religiös »jungen« Umfeld des Südens mehr und mehr durchsetzen, in dem man recht selbstverständlich Zugang zu vergleichbaren Erfahrungen hat.
Zweites Merkmal: wachsende Kompromisslosigkeit bei der Ver­-tretung der »typisch katholischen« Optionen in Moral, kirchlichem Selbstverständnis und Politik. Die Herausforderung durch einen rasant um sich greifenden religiösen Pluralismus bzw. durch andere, sich mehr oder weniger aggressiv selbst behauptende religiöse Konzepte wird den Katholizismus – so A. – zu einem Rückgriff auf die seit dem 19. Jh. stark gemachten Identitätsmerkmale veranlassen. Reforminitiativen im Blick auf das Amtsverständnis, die Kirchenorganisation und angefochtene moralische Normen etwa im Bereich sexueller Orientierungen gibt A. keine Chance. Die stärkere Verwurzelung der katholischen Kirche im armen Süden aber wird zu einer Radikalisierung der Option für die Armen führen und die Kirche entschiedener für Gerechtigkeit und gegen wirtschaftliche Ausbeutung eintreten lassen.
So ergibt sich als drittes Merkmal: weg von der ekklesialen Intro­vertierung hin zur Extrovertierung. Die Beschäftigung mit eigenen Problemen wird nicht länger davon ablenken, dass die katholische Kirche den jungen Völkern und Gesellschaften des Südens ein identifikationsfähiges Angebot für die Durchsetzung ihrer elementaren Interessen in der Weltgesellschaft formulieren muss. Die Solidarisierung mit ihnen wird das Katholischsein mehr bestimmen als die Identifikation mit den globalen Interessen des Nordens und des Westens.
Viertes Merkmal: ökologische Sensibilität bei Konservativität in den neuen bio-ethischen Herausforderungen. Die katholische Kirche wird sich global stärker für die Erfordernisse einer Bewahrung der Schöpfung engagieren, aber zugleich die konservativen, naturrechtlich begründeten Optionen in der Bioethik beibehalten.
Dieser Überblick über A.s Mittelfrist-Projektion wird bei »liberalen« Katholiken kaum Freude aufkommen lassen. Die Optionen »aufgeklärtes Christentum« und »Mehr Laien-Mitsprache« bei kirchlichen Entscheidungsprozessen werden danach kaum weiter zum Tragen kommen oder sich nur so auswirken, dass Laien zwar das Hauptgewicht der kirchlichen Arbeit tragen, die Identitätspolitik der Kirche aber entschiedener und zentralistischer noch als bisher von der Kirchenleitung normiert und auf die Unterscheidung von Klerus und Laien hin forciert wird.
Einige Rückfragen seien gestattet: 1. Ist der auf traditionelle Unterscheidungsmerkmale fixierte Stil kirchlicher Identitätspolitik so alternativlos, wie A. unterstellt? Könnte sich nicht gerade an­gesichts der interreligiösen Herausforderung eine Identitätsver­gewisserung im Blick auf das zentral Christliche nahelegen, wenn dafür entsprechende theologische und spirituelle Ressourcen zu­gänglich sind? 2. Verkennt A.s Prognose eines Stilwandels von ekklesialer Introvertierung zur Extrovertierung nicht die feudalis­tischen Verkrustungen, die einer diakonischen Ausrichtung kirchlichen Handelns im Blick auf globale und regionale Herausforderungen der Weltgesellschaft im Wege stehen? Muss sich die Kirche nicht zuinnerst ändern, damit sie sich auf Herausforderungen wie die der globalen Gerechtigkeit einstellen kann? 3. Ist das von A. für zukunftsfähig gehaltene Konzept des Naturrechts angesichts eines auch naturwissenschaftlich geprägten Lebens- und Natur-Begriffes nicht längst zusammengebrochen bzw. in völlig anderer Weise gefordert, als es gegenwärtig in der lehramtlichen Theologie (etwa zur Diskriminierung der Homosexuellen oder zur Begründung der Weiheunfähigkeit von Frauen) stark gemacht wird? 4. Sind südliche Gesellschaften tatsächlich so weitgehend immun gegen Säkularisierungstendenzen oder wird die Globalisierung medien-kultureller Entwicklungen nicht auch hier mittelfristig zu einer Homogenisierung der Wahrnehmungen führen?
A. stellt solche Fragen kaum. Darin scheint er der vatikanischen Sichtweise der Dinge eng verbunden. So kommt es zu der generellen Einschätzung, die katholische Kirche der Zukunft werde gegen die »Diktatur des Relativismus« gebaut sein. Die kirchliche Leitungsebene wird sich von A.s Buch bestätigt fühlen; es ist ihr aus der Seele geschrieben. Darin liegt auch der Wert des Buches: Man weiß besser, wie man hier denkt – und sich Begründungen für ansonsten schwer nachvollziehbare Entscheidungen zurechtlegt.