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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

1005–1007

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Pottmeyer, Maria

Titel/Untertitel:

Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England. Staatliche Neutralität und individuelle Rechte im Rechtsvergleich.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XXII, 330 S. 23,2 x 15,5 cm = Jus Ecclesiasticum, 96. Lw. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-150919-3.

Rezensent:

Christine Schirrmacher

P. untersucht in ihrer rechtswissenschaftlichen Dissertation die Frage der Zulässigkeit religiöser Kleidung für Schüler und Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen sowie Lehramtsbewerber an öf­fentlichen Schulen. Sie vergleicht dafür die geltende Rechtslage in England (mit seinem Staatskirchensystem) und Deutschland (mit der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates zwischen Laizität und Staatskirchentum).
Die Frage der Zulässigkeit religiöser Kleidung ist angesichts von über 4 Mio. Muslimen in Deutschland und vielleicht 800.000 Schülern keine Randfrage mehr. Die Präsenz des Islam als zweitstärkster Religionsgemeinschaft in Deutschland wirft nicht nur die Frage eines flächendeckenden Religionsunterrichts und der Ausbildung von Imamen an staatlichen Universitäten auf. Es geht auch um die Frage der Zulässigkeit von religiöser Kleidung in der Schule bei Berufung auf das Grundrecht der Religionsfreiheit angesichts der weltanschaulichen Neutralität des Staates, den zumindest Lehrer im Beamtenstatus repräsentieren. Hauptkonfliktpunkt ist dabei in Deutschland das Kopftuch, während der Ganzkörperschleier (Jilbab) und der Gesichtsschleier (Niqab) dabei bisher so gut wie keine Rolle spielen.
Zwar gewährt der Staat, so erläutert P., im Rahmen eines Kooperationssystems mit den Körperschaften des öffentlichen Rechts – bisher vor allem den Kirchen – und der prinzipiellen Trennung von Staat und Kirche, bei der der Staat nicht selbst als religiöser Akteur auftritt, allen Bürgern gleichermaßen Religionsfreiheit. Er bewertet weder die einzelnen Religionen noch deren Glaubensinhalte, und er identifiziert sich auch mit keiner dieser Religionen. Andererseits bedeutet die in Deutschland allen Menschen zustehende Religionsfreiheit nicht, dass jedwedes religiös begründete Verhalten bzw. das Tragen aller Kleidungsstücke im staatlichen Schuldienst mit dem Hinweis auf die persönliche Religionsfreiheit eingeklagt werden könnten. Vielmehr sind andere Rechtsgüter wie die mögliche Störung des Schulfriedens, die Verletzung der negativen Religionsfreiheit Dritter oder das Erziehungsrecht der Eltern ge­gen die persönliche Religionsfreiheit abzuwägen. Grundsätzlich gilt, dass der Staat nur bei religiös begründeten Konflikten eingreifen kann, wenn dies im Sinne des Pluralismus und der Toleranz er­forderlich scheint und die religiöse Vielfalt vor Einengung schützt.
P. kommentiert in diesem Zusammenhang u. a. das »Kopftuch-Urteil« des Bundesverwaltungsgerichts im Fall der Lehramtsanwärterin Fereshta Ludin von 2002, in dessen Nachgang mehrere Bundesländer wie z. B. Baden-Württemberg, Bayern oder Nord­-rhein-Westfalen, aber auch Berlin, Bremen und Hessen Gesetze er­ließen, die die religiös akzentuierte Kleidung von Lehrern generell untersagen, also absolute Kopftuchverbote schufen und eine Einzelfallprüfung nicht mehr vorsehen. Als Gründe werden die Wahrung der religiösen Neutralität gegenüber Schülern und Eltern benannt sowie die Wahrung des Schulfriedens. Diese Bestimmungen, so P., »greifen […] in die Religionsfreiheit der Lehrerinnen und Lehrer mit religiösen Bekleidungsbedürfnissen ein« (221).
P. lässt das Argument einer möglichen Ausübung von Druck durch Lehrerinnen mit Kopftuch auf ihre Schülerinnen nicht gelten, ebenso wenig sind für sie aufgrund der Kleidung erhobene Zweifel an der Verfassungstreue (234ff.) oder der unparteiischen Amtsführung der betreffenden Lehrerin (236ff.) ausreichende Gründe, um das Kopftuch als Widerspruch zum staatlichen Erziehungsauftrag zu erkennen, da die Aussage des Kopftuchs diesem ihrer Ansicht nach nicht entgegensteht.
Daher betrachtet P. das Verbot religiöser Kleidung für Lehrerinnen in den betreffenden Bundesländern Deutschlands als »erhebliche Einschränkung für die betroffene Lehrkraft« (265). Aus ihrer Sicht ist eine Privilegierung christlicher oder jüdischer Kleidung nicht zu rechtfertigen und stellt eine Ungleichbehandlung dar. Der Verweis ist ohne Vorliegen anderweitiger Anhaltspunkte auf eine »abstrakte Gefahr für den Schulfrieden […] nicht ausreichend« (285), eine Be­schränkung von Lehrern und Lehrerinnen und Lehramtsbewerbern und -bewerberinnen auf nicht-religiöse Kleidung eine »di­-rekte Diskriminierung« (290) und aufgrund der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates ist die »Neubestimmung des Neutralitätsverständnisses […] verfassungsrechtlich unzulässig« (297).
Aus diesen Gründen bedauert P. die gegenwärtig getroffenen Regelungen und plädiert grundsätzlich für die Erlaubnis religiöser Kleidungsstücke im Schuldienst. Sie erkennt hierin allenfalls eine abstrakte Gefahr der Störung des Schulfriedens, die es jedoch aus ihrer Sicht nicht rechtfertigt, insbesondere das Kopftuch für beamtete Lehrerinnen grundsätzlich zu verbieten. Diese Argumentation untermauert sie durch einen Vergleich mit der Situation in England, wo sie eine stärkere Anerkennung der multikulturellen Realität im Schulalltag erkennt.
Aber auch in England sind den religiösen Ausdrucksformen in Schulen Grenzen gesetzt: Dort ist es zwar nach geltender Rechtslage in der Regel möglich, als Lehrperson religiöse Kleidung zu tragen, solange sie nicht die Erfüllung der Aufgaben des Unterrichts und der Erziehung behindert. Allerdings sind dort die Regelungen für Schüler und Schülerinnen wesentlich restriktiver als in Deutschland, was etwa das Tragen von Schmuck mit religiösen Botschaften betrifft. So wurde 2008 in England in einem spektakulären Urteil einer Schülerin das Tragen eines »Purity«-Rings mit christlicher Bedeutung untersagt, das Kopftuch bei Schülerinnen jedoch ebenso wie der Turban der Sikhs in Kombination mit der Schuluniform toleriert, ja sogar der Jilbab wurde im Jahr 2006 gerichtlich gestattet. Während also in Deutschland Schüler grundsätzlich in ihrer Kleidungswahl frei sind und keinerlei Einschränkungen akzeptieren müssen (eine Ausnahme ist der Gesichtsschleier, da er die Kommunikation unmöglich macht), müssen dies Lehrer durchaus, während in England genau die umgekehrte Regel gilt.
Der Kernpunkt der Problematik, so wird aus der Lektüre dieser detailreichen Studie deutlich, ist zum einen die Abwägung der einzelnen Rechtsgüter wie der Religionsfreiheit gegen eine mögliche Verletzung der staatlichen Neutralität durch seine Repräsentanten oder eine Gefährdung des Schulfriedens, zum anderen aber auch die Frage der Interpretation religiöser Kleidung als Ausdrucksform einer rein religiösen oder aber einer religiös-politischen Orientierung sowie die weitere Frage, welche Schlussfolgerungen aus der ersten oder zweiten Annahme zu ziehen wären.
Wer an juristischen Begründungen für die Abwägung von Einzelrechten interessiert ist, die bei den gerichtlichen Grundsatzentscheidungen für oder gegen das Kopftuch für Lehrerinnen eine Rolle spielen, und dabei zudem gern über den Tellerrand ins angelsächsische Ausland schauen möchte, wird in dieser Dissertation reich mit Fachwissen versorgt. Er muss als juristischer Laie bei der Lektüre zwar durchaus Beharrlichkeit an den Tag legen, da es sich zugleich um eine fachwissenschaftliche Qualifikationsschrift im Fach Jura handelt, wird aber dafür mit vielen neuen Einsichten in eine äußerst interessante und aktuelle Materie belohnt.