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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

952–955

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Stolle, Volker

Titel/Untertitel:

Festhalten und Fortschreiten. Karl Friedrich August Kahnis (1814–1888) als lutherischer Theologe.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2011. 365 S. m. Abb. 22,5 x 15,5 cm = Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie, 43. Geb. EUR 43,90. ISBN 978-3-7675-7153-2.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

Über Kahnis ist seit über 100 Jahren, seit der Arbeit von Friedrich Julius Winter (1896), auf der alle weiteren biographischen Lexikonartikel fußen, nicht mehr eingehend gearbeitet worden. Dabei ge­hörte er zu jenem berühmten Leipziger Dreigestirn: Kahnis, Luthardt, Delitzsch und hatte über drei Jahrzehnte lang an der Leipziger Universität eine große Wirkung im 19. Jh. Über das konfessionelle Luthertum im 19. Jh. gibt es mehrere fundierte Gesamtdarstellungen (z.B. Fagerberg, Kantzenbach, Beyschlag, Rieske-Braun), aber auch Darstellungen einzelner Theologen wie De­litzsch, Höfling, Huschke, Luthardt und Thomasius, die das je eigengeprägte Profil dieser Theologen herausarbeiteten. Eine Un­tersuchung anhand zahlreicher Archivalien zu Kahnis und aus den nicht weniger zahlreich gedruckten Schriften von ihm gesellt sich nun hinzu, die sowohl historisch wie systematisch und vor allem gegenwartsbezogen von besonderem Belang ist. Ihr Autor ist Volker Stolle, emeritierter Professor für Neues Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel und ihr mehrmaliger Rektor.
Der Titel des Buches und die Einleitung geben die beiden Pole im Denken von Kahnis prägnant wieder: einerseits die entschlossene Haltung in der kirchlichen Situation seiner Zeit, wie sie in seiner Ablehnung der Union in Preußen zum Ausdruck kommt, andererseits seine nicht weniger entschlossene Forderung, eine Freiheit im theologischen Denken zu praktizieren, die in der Auseinandersetzung mit der lutherischen Lehrtradition auch abweichende und neue Positionen vertreten kann. Als Festhalten und Fortschreiten bezeichnet S. das, womit vor allem Kahnis’ Anspruch einer dezidiert lutherischen Theologie und Kirchlichkeit zum Ausdruck kommt, der manche Klischees über die konfessionell-lutherische Theologie des 19. Jh.s beseitigen kann.
Die Arbeit nimmt zunächst den Kontext des Denkens und Wirkens von Kahnis in den Blick, die zeitgenössischen Reaktionen auf seine Werke und Lebensentscheidungen sowie Grundlinien seiner Biographie. Sein Weg ging von seiner Geburtsstadt Greiz, der Hauptstadt des Fürstentums Reuß ältere Linie, über das Studium in Halle und Berlin zunächst nach Breslau, wo er mit 30 Jahren eine außerordentliche Professur erhielt. 1850 wurde er Nachfolger von Adolph von Harleß in Leipzig. Hier erlebte er den Höhepunkt seines Forschens und Lehrens.
In drei Kapiteln entfaltet S. den theologischen Ansatz von Kahnis, seine konfessionelle Positionierung sowie seine Fortentwick­lung der lutherischen Theologie. Seine erste größere Arbeit ist die »Lehre vom heiligen Geist«, deren erster Teil 1847 in Halle erscheint. Den Glauben sieht Kahnis im Menschen angelegt, er erfährt seine Erfüllung in der Gemeinschaft mit Gott, die ihm Christus im heiligen Geist vermittelt. Immer wieder stützt er sich auf Eph 4,11–13, womit er die geschichtliche Wirklichkeit in sein theologisches Denken aufgenommen sieht. In dem Begriff der Gemeinschaft mit Gott sind die göttliche Seite des heiligen Geistes und die mensch­- liche Seite geschichtlicher Existenz miteinander verbunden. In einer Artikelfolge in der »Evangelischen Kirchenzeitung« hat er den Inhalt seines ersten Buches einem breiteren Publikum unter dem Titel »Das Wesen des Christentums« vorgestellt. 1861 erscheint der erste Band »Die Lutherische Dogmatik« (2. Bd. 1864; 3. Bd. 1868). Kahnis trägt den dogmatischen Stoff in historisch-genetischer Darstellungsweise vor, wobei er das Christentum unter drei ge­schichtlich greifbaren Gesichtspunkten zu erfassen versucht: »Die Elemente, aus welchen es geworden ist, sind der allgemeine religiöse Geist, die in der heiligen Schrift niedergelegte Bundesoffenbarung, der Kirchenglaube.« (Dogmatik I, 14) In dem dritten Element ist die soziologische Seite des Glaubens ausgedrückt, womit die geschichtliche Wirklichkeit des Glaubens im Leben der Kirche theologisch gewürdigt ist. In seinem Reformationsprogramm »Über die im Wesen des Protestantismus liegenden Prinzipien« (1865) stellt er den Protestantismus als ein durch alle Zeiten der Kirche hindurchgehendes Prinzip dar, nämlich als das an die jewei­lige bestehende Kirche angelegte Richtmaß des Evangeliums: Schriftprinzip, Heilsgemeinschaft mit Gott durch Christus im Glauben (Heilsprinzip), Kirchenprinzip. »Diese Dreiheit der Prinzipien ist im Wesen des Christentums begründet.« (Kahnis, Wesen des Pro­-tes­tantismus, 20) Die Reformation des 16. Jh.s sieht Kahnis als »das große welt- und kirchengeschichtliche Strombette, in welches alle protestantischen Strömungen der alten und mittlern Zeit einmünden, von welchem alle protestantischen Strömungen ausgehen. Die Reformation ist die Wasserscheide, zwischen der alten und neuen Zeit, von der ab die Flüsse kirchlichen Lebens entweder rück­wärts oder vorwärts fließen.« (ebd., 19 f.)
Die konfessionell-lutherische Prägung von Kahnis führt zu­nächst noch einmal in seine Zeit in Breslau, wo er sich den sich von der evangelischen Landeskirche in Preußen getrennt haltenden Lu­theranern anschließt (1848). Dieses lebensgeschichtlich wichtige Er­eignis fällt nicht zufällig in das Revolutionsjahr 1848. In einem Aufsatz »Deutschland und die Revolution« in der »Evangelischen Kirchenzeitung« fallen scharfe Worte gegen die Demokratie als »Heerde der Tyrannei« und die Verwerfung aller Revolutionen. Die Fürstentreue geht einher mit einem starken Patriotismus, wie S. meint (168), man kann es auch eine problematisch überhöhte nationale Gesinnung nennen, in der sich deutscher und christlicher Geist eng verbinden.
In der lutherischen Gemeinde in Breslau wird Kahnis die Stelle eines zweiten Predigers übertragen (1849). Dieser Schritt aus der preußischen Union in die lutherische Kirche in Preußen hat auch für sein akademisches Amt Folgen, der von den Mitgliedern der Fakultät gegenüber einer erbetenen Stellungnahme von Seiten des Ministeriums ausführlich kommentiert wird. Kahnis versprach sich von dem Doppelamt als Professor und Pfarrer eine Förderung seiner gesamten Wirksamkeit, da die theoretische Theologie nur im engen Anschluss an die praktischen Interessen der Kirche gedeihen könne. Die für die damalige Situation der Stellung zwischen Staat und Kirche aufschlussreiche Diskussion endet schließlich mit der Ablehnung der Bitte von Kahnis, die beiden Ämter verbinden zu können, woraufhin er seine Demission von seinem Professorenamt in Breslau unter Verbitterung einreicht. Der sich bald danach eröffnende Weg nach Leipzig bietet Kahnis die Möglichkeit, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen auch weiterhin kritisch zu begleiten. Seine Argumentation gegen die preußische Union findet differenziert und selbstkritisch im Rahmen der kirchenpoli­tischen Entwicklungen der Zeit statt und hat besonders im Gegenüber zu Karl Immanuel Nitzsch ihren Ausdruck gefunden.
Den Konfessionalismus des 19. Jh.s unterscheidet Kahnis klar von dem des 17. Jh.s: »Das Christentum hat nicht sein Richtmaß im Luthertum, sondern das Luthertum im Christentum.« Die luthe­-rischen Theologen verbindet mit denen der anderen Konfessionen eine »Union des Strebens nach Wahrheit« (Kahnis, Christentum und Luthertum, 366.370). Kahnis’ Mitarbeit an den evangelisch-luthe­rischen Konferenzen und sein Bemühen, die eigene konfessionell-lutherische Position im Blick auf die gesamte Kirche ökumenisch zu weiten, kommt in seiner Überzeugung zum Ausdruck, dass die lutherische Theologie entwicklungsfähig ist. Die lutherische Dogmatik arbeitet historisch-genetisch. »Sie sieht die Kirchenlehre als ein geschichtlich Gewordenes an, welches in sich die Kraft der Fortentwicklung trägt.« (184) Das zeigt sich in seiner Abendmahlslehre, in der Lehre der Persönlichkeit des Heiligen Geistes, in der Trinitätslehre, Christologie und nicht zuletzt in seiner Schriftlehre, die den Nerv der lutherischen Theologie betrifft und somit auch auf heftige Kritik bei anderen ihm sonst zugeneigten Theologen stößt.
Kahnis weist die Inspirationslehre deutlich zurück: »Der Grundfehler […] der alten Theorie liegt darin, daß die Inspiration die Offenbarung absorbiert. Nicht die Bundesoffenbarung selbst, sondern nur die inspirierte Urkunde derselben ist ja die Schrift.« (Kahnis, Dogmatik I, 667) Die Schrift ist ein geschichtliches Dokument, das auf geschichtliches Geschehen bezogen ist und eine historische Auslegungsweise erfordert. Der Widerspruch seiner Freunde ließ nicht lange auf sich warten. Hengstenberg stellte bei Kahnis eine Abwendung von der kirchlichen Bahn fest und kündigte ihm die Freundschaft auf. Auch andere sparten nicht mit Kritik. S. sieht Kahnis jedoch als dezidiert lutherischen Theologen, der sich an Schrift und Bekenntnis gebunden weiß. »Die Bindung an das Bekenntnis schließt theologischen Fortschritt nicht aus, sondern ein.« (253) »Seine konfessionelle Positionierung ist mit einem ökumenischen Bewusstsein unter betontem Rückgriff auf die altkirchliche christologische und trinitarische Dogmenbildung verbunden. Zugleich beansprucht er eine weitgehende Freiheit zur theologischen Ausgestaltung im Dialog mit den geis­tigen Strömungen seiner Zeit und der modernen geschichtlichen Betrachtungsweise.« (254)
In einem letzten Kapitel »Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung« geht S. noch einmal intensiv auf das theologische Anliegen und die Fragestellung von Kahnis ein. Er sieht ihn u. a. in dem Traditionszusammenhang von Schleiermacher zur Erlanger Erfahrungstheologie (292). Ein vorbildlich unvoreingenommenes, offenes, vielfach kritisches Gespräch wird mit diesem lutherischen Theologen des 19. Jh.s geführt, in das nicht zuletzt der eigene konfessionell-lutherische Standpunkt heute eingebracht wird und sich befragen lässt:
»Auf jeden Fall ist die Weichenstellung, die Kahnis vorgenommen hat, für das gegenwärtige konfessionelle Luthertum unhintergehbar. Ein verbindliches Festhalten an der normativen Bedeutung von Schrift und Bekenntnis kann nur gelingen, wenn die Begrenztheit der eigenen geschichtlichen Existenz, nicht Vollhörer der heiligen Schrift zu sein und im kodifizierten Bekenntnis keine alles erschöpfende, zeitlose Wahrheit zu haben, bewusst bleibt und zugleich das Fortschreiten in der geschichtlichen Entwicklung offen angenommen wird. Die Verpflichtung auf die Bekenntnisse früherer Generationen befördert dann die Fähigkeit zu aktuellem Bekennen im Kontext der eigenen geschichtlichen Herausforderungen in selbst übernommener geistlicher Verantwortung.« (333)
Das Buch hat einen sehr sorgfältig gearbeiteter Anmerkungsapparat, in dem die Fülle der zeitgeschichtlichen Ereignisse und Personen mit kurzer Biographie umfassend dokumentiert ist. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister beschließen dieses wichtige Buch, das die heute höchst selten gestellte Frage, was lutherische Theologie und Kirche ausmacht, eindringlich stellt und wachhält.