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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

921–924

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Adamczewski, Bartosz

Titel/Untertitel:

Constructing Relationships, Constructing Faces. Hypertextuality and Ethopoeia in the New Tes­tament Writings.

Verlag:

Frankfurt a. M./Berlin/Bern/Bruxelles/ New York/Oxford/Wien: Lang 2011. 223 S. 21,6 x 15,3 cm. Geb. EUR 47,80. ISBN 978-3-631-61482-2.

Rezensent:

Martin Hüneburg

Intertextuelle Ansätze haben sich nach zunächst zögerlicher Rezeption auch in der biblischen Exegese gut etabliert und ihr Po­tenzial erwiesen. Allerdings hat die Ausdifferenzierung dieses Paradigmas dazu geführt, dass der Begriff Intertextualität zu einem umbrella term für jede Form textvergleichender Arbeit geworden ist, unter dem sich unterschiedliche, teils gegensätzliche Konzepte und eine oszillierende Terminologie verbergen.
Bartosz Adamczewski, lecturer für Neues Testament an der Kardinal Stefan Wyszynski-Universität in Warschau, unternimmt nicht weniger als den Versuch, auf der Grundlage des Intertextualitätsparadigmas die Entstehungsgeschichte der neutestamentlichen Schriften neu zu schreiben. Dazu hat er 2010 außer der hier anzuzeigenden Arbeit drei weitere Bücher im gleichen Verlag veröffentlicht: »Heirs of the Reunited Church: The History of the Pauline Mission in Paul’s Letters, in the So-Called Pastoral Letters, and in the Pseude-Titus Narrative of Acts«; »Q or not Q?: The So-Called Triple, Double, and Single Traditions in the Synoptic Gospels« (vgl. die Rezension von W. Kahl in ThLZ 136 [2011], 1313 f.) und »The Gospel of the Narrative We: The Hypertextual Relationship of the Fourth Gospel to the Acts of the Apostles.«
Grundlage ist das Transtextualitätskonzept Gérard Genettes. Dabei beschränkt sich A., wie der Untertitel deutlich macht, auf den Aspekt der Hypertextualität. Jedoch geht es ihm nicht im Sinne Genettes um die Erfassung der vielfältigen Beziehungen zwischen Hyper- und Hypotext, sondern ausschließlich um die Eruierung literarischer Abhängigkeitsverhältnisse. Er verwendet das Intertextualitätsparadigma also nicht im Sinne von Echo oder Dialog, sondern im Sinne der Einfluss- und Quellenforschung.
Der damit angezeigte umfassende Zugriff weckt zumindest Er­wartungen auf einen fundierten Entwurf. Das Buch lässt seine Leser jedoch in jeder Hinsicht ratlos und ärgerlich zurück. Dies beginnt bereits bei der Zielstellung: »… the present book may function as both supplement and introduction to my earlier works … but also with the vexed questions of hermeneutic and method­ological presuppositions, criteria and directions of literary depend­ence, relative and absolute chronology, etc. in the field of the New Testament writings.« (16) In der knappen Einleitung (9–16) wird aber lediglich nach einer pauschalen Kritik am Forschungsstand der Ansatz A.s dargestellt.
An der bisherigen Forschung kritisiert A., dass sie sich zu sehr auf die Rezeption vorchristlicher Texte konzentriert und die intertextuellen Beziehungen innerhalb des Neuen Testaments nur in wenigen Bereichen untersucht habe (10). Dabei beschränke sie sich auf »relatively easy to detect, and therefore ›safe‹, categories of quotation, allusion, paraphrase, imitation, echo, etc.« (11) und vernachlässige die Einbeziehung komplexer rhetorischer Techniken wie der ethopoieia (13 f.). Dagegen sei aber »a high degree of literary creativity and imagination on the part of the author of the hypertext« (13) vorauszusetzen. Zur Abstützung dieser Voraussetzung verweist er auf die Praxis der Fortschreibungen einzelner alttestamentlicher Bücher und der rewritten bible. Als Markierung hypertextueller Beziehungen sieht er deshalb auch nicht so sehr Wortlautübereinstimmungen als vielmehr »detectable thematic corres­pondences between two works, which follow a sequential pattern« (13). Dieses Kriterium wird verstärkt, wenn eine systematische Nutzung der gesamten Quelle erkennbar ist.
Eine solche allgemeine Annahme bedürfte jedoch genauerer methodologischer Absicherung und differenzierter Untersuchungen, um nicht in haltlose Spekulationen zu geraten. Eine Diskussion von vexed questions findet aber an keiner Stelle auch nur andeutungsweise statt. Der Hauptteil der Arbeit besteht vielmehr in einem Durchgang durch alle 27 neutestamentlichen Schriften, bei dem jeweils Einleitungsfragen behandelt und einzelne Beobachtungen aufgelistet werden, die intertextuelle Beziehungen be­legen sollen. Daraus wird abschließend und zusammenfassend die Konsequenz für das gesamte Neue Testament gezogen: »These relationships constitute a logically organized, internally coherent network.« (167) Bibliographie und ein Stellenindex schließen das Buch ab.
Die Kürze der Darstellung erlaubt lediglich thetische Aussagen, nicht aber wirkliche Untersuchungen oder gar Auseinandersetzungen mit abweichenden Meinungen. So ist es nicht verwunderlich, dass in den Fußnoten Selbstreferenzialität dominiert. Da dies gerade auch die sehr eigenen Thesen A.s betrifft, ist die Argumentation zumeist schlicht nicht nachvollziehbar.
Der Ausdruck »creative, hypertextual, sequential reworking« wird stereotyp benutz, ohne auch nur einmal weiter zu klären, wie solche Kreativität sich äußert, was sie veranlasst haben könnte und wie sie methodisch zu erfassen sei. Dieses Vorgehen kann deshalb nur als ausgesprochen phantasievoll bezeichnet werden.
»Mark assumed, most probably on the basis of Rom 15:19, that Paul re­-garded Judea as his homeland. For this reason, Mark alluded in Mk 6:1-6 to Paul’s comming from the Gentile world to Judea (Gal 2:1-4) as to a return to his homeland.« (35) Dazu wird zwar auf Q or not Q? (244) verwiesen, dort aber findet sich nahezu wortgleich dieselbe Aussage, gekennzeichnet als evidently und deshalb wohl keiner weiteren Begründung bedürftig. Die Zahl derartiger »Be­lege« ließe sich leicht vermehren.
Die von A. ausgemachten hypertextuellen Bezüge sind aber auch unter Einbeziehung des Gesamtwerkes kaum überzeugend bzw. nur im Rahmen eines Zirkelschlusses aussagekräftig. So basieren die Evangelien nach A. nicht auf Jesustraditionen, sondern sind »hypertextual reworkings of the contents of the Pauline letters and (in the case of Mt and Jn) of the Acts of the Apostles, with the use of the sacred Scriptures of Israel, Josephus’ writings and several other literary works« (25). Dafür verweist A. u. a. auf die Beobachtung, dass die meisten der bei Mk vorkommenden Ortsnamen auch bei Josephus begegnen, und »Mark’s highly intertextual way of composing his work.« (139) Der sonst nicht vorkommende Ortsname Nazareth (Mk 1,9) erklärt sich dann aus der Verarbeitung von Röm 1,3 f. »Mark illustrated the idea of Jesu’ belonging to the posterity of David (Rom 1:3) with the use of the motif of the root of Jesse (Is 11:1), which had been suggested to him by Paul’s Scripture-based theologizing (Rom 15:12; cf. Is 11:10)« (26).
Die Evangelisten schaffen also mittels »creative, hypertextual, sequential reworking of the most important themes and motifs of an earlier text« ihre Texte ohne historische Bezüge. Dies erscheint umso verwunderlicher, als A. nicht nur Paulus (wegen seiner Be­gegnung mit Petrus), sondern auch den anderen Gemeinden durchaus Zugang zu weiteren mündlichen Traditionen zugesteht (32: »Besides, some oral traditions concerning Jesus must have circulated in the influential communities of Judea, Antioch, and Rome.«). Warum sollte das aber – selbst bei vorausgesetzter Hypertextualität – für die Verfasser der Evangelien ausgeschlossen sein? A. zieht aus den von ihm behaupteten hypertextuellen Beziehungen historische Urteile und wiederholt damit den Fehler der klassischen Formgeschichte.
Für A. referieren nicht nur die Evangelien, sondern die Mehrheit der neutestamentlichen Schriften nicht direkt auf historische Ereignisse, sondern auf andere Texte, speziell auf die Paulusbriefe (165). Auch innerhalb der authentischen Paulinen erkennt er auto-intertextuelle Beziehungen. So handelt es sich bei Röm um »a result of sequential hypertextual reworking of 1 Cor in a Jewish-style way.« (59) Das reworking ziele darauf, »to maintain both consistency and flexibility of his own teachings.« (60) Es ist also nur deshalb erforderlich, weil Paulus sich mit dem Römerbrief an Judenchristen richtet. Die Situation der römischen Gemeinde scheint dagegen auf Inhalt und Gestalt des Röm keinen Einfluss gehabt zu haben. Deutlich wird hier, dass der im intertextuellen Diskurs höchst umstrittene Textbegriff bei der Operationalisierung des Intertextualitätskonzeptes als exegetische Methode einer gründlichen Reflexion bedurft hätte.
Die derart erhobenen hypertextuellen Beziehungen führen für A. aber nicht nur zu einer relativen, sondern auch zu einer absoluten Chronologie der neutestamentlichen Bücher. Weil die eucharistische Gastfreundschaft zwischen Juden- und Heidenchristen in Röm noch nicht problematisiert wird, wird dieser noch vor dem Apostelkonvent und dem antiochenischen Zwischenfall angesetzt. Dass in Rom eine andere Situation vorliegen könnte, kommt wegen der zugrunde liegenden Texttheorie nicht in den Blick. Mit Ausnahme der echten Paulusbriefe und eventuell des Kol werden alle anderen Schriften in die erste Hälfte des 2. Jh.s datiert. Mk ist demnach zwischen 100 und 110 »in one of the post-Pauline communities, probably in Ephesus, Achaea or Macedonia […] after the publication of the works of Flavius Josephus« (135) entstanden, die Deuteropaulinen, Jak und 1Pt um 120, Lk zwischen 110 und 120 und Mt als Letzter der Syn zwischen 135 und 140. Das Johannesevangelium, das »intentionally summarizes the contents for all earlier Pauline and post-Pauline writings, which dealt in various ways with the person of Jesus« (163), entstand schließlich als Abschluss des Kanons nach dem Bar-Kochba-Aufstand zwischen 140 und 150. Leider erfährt der Leser nichts darüber, wie sich derartige Datierungsvorschläge zur Rezeption der neutestamentlichen Schriften in der Didache, bei Ignatius und im Barnabasbrief oder zum Befund des Papyrus 52 verhalten.
So bleibt als Resümee nur die Feststellung, dass es sich bei dieser Art intertextueller Untersuchungen um ein kaum als wissenschaftlich zu bezeichnendes Unternehmen handelt. Angesichts dessen bleibt schließlich die Frage, warum ein renommierter Verlag ein solches Buch veröffentlicht.