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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

904–905

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Fieger, Michael, u. Jörg Lanckau [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erschaffung und Zerstörung der Schöpfung. Ein Beitrag zum Thema Mythos.

Verlag:

Bern/Berlin/Bruxelles/Frankfurt a. M./New York/Oxford/Wien: Lang 2011. 178 S. m. 1 Tab. 22,5 x 15,5 cm = Das Alte Testament im Dialog, 4. Kart. EUR 46,30. ISBN 978-3-0343-0479-5.

Rezensent:

Alexandra Grund

Der interdisziplinär ausgerichtete Sammelband, der auf eine Vorlesung an der Theologischen Hochschule Chur im Jahr 2009 zu­rückgeht, möchte als Beitrag zur kulturgeschichtlichen Arbeit am Thema des Mythos verstanden werden. Die Theorien des 20. Jh.s und die kulturwissenschaftlichen Diskussionen der letzten Jahrzehnte hierzu enthalten in der Tat reichlich Impulse, um neue De­batten um eine interdisziplinär geschulte theologische Hermeneutik des Mythos zu eröffnen. Ein kleiner Band, der sich entsprechend dem Anliegen der Reihe »Das Alte Testament im Dialog« auch an eine breitere Leserschaft richtet, kann solche Diskussionen gewiss nicht im großen Stil entfachen. Umso hilfreicher wäre im vorliegenden Band aber eine Einleitung, die Einsichten der Einzelbeiträge zu integrieren und in eine übergreifende Perspektive zu rücken versucht. – Die verschiedenen Beiträge sind je für sich zu würdigen.
Heinrich Reinhardts aus Perspektive eines Philosophen geleisteter Beitrag: Was ist ein Mythos? Eine Hinführung zum Begriff und seiner Geschichte (9–15), nähert sich kulturhistorisch über den Gebrauch der (vorwiegend griechisch-römischen) Mythen seit der Frührenaissance bis zu einem Aufblühen von Mythentheorien im 20. Jh., die er als Reaktion auf die Krise des Selbstverständnisses der europäischen Völker deutet. Nach einer Abgrenzung von Mythos und Religion bestimmt Reinhardt Mythos als Erzählung über Ereignisse in der göttlichen Sphäre, die um die »grossen Fragen des Daseins: Herkunft der Welt, Sinn und Zweck des Lebens, Entstehung und Untergang der Götter, Tod und Unsterblichkeit, Ende der Welt« (14) kreisen.
Marcel Weders literaturwissenschaftlicher Beitrag: Literatur als Manifestation des Mythischen (17–44) definiert den Mythos als bedeutsame Erzählung über vorvergangenheitliche, zugleich stets gegenwärtige Ereignisse. Gemeinsam ist den neueren Mythentheorien die Betonung zumindest einer rationalen Leistung des Mythos, die aber unterschiedlich bestimmt wird: als imaginative Wunscherfüllung (Segal), Bannung des Absolutismus der Wirklichkeit (Blumenberg) oder symbolischer Vollzug von – auch fragwürdem – Sinn und Wert (M. Frank; Horkheimer, Adorno). Literarisches Erzählen sei insofern mythisch, »als damit auf einen Absolutismus der Wirklichkeit reagiert wird, der sich in Form einer zunehmenden Rationalisierung und Kalkulierbarkeit der Wirklichkeit zeige« (43) – mit der bemerkenswerten Konsequenz, dass gerade literarische Texte zum Remedium schlechter Mythifikation des Logos werden können.
Der alttestamentliche Beitrag von Jutta Krispenz: Am heiligen Ort. Der Hof im Tempel als mythischer Raum (45–64), fragt mit Blick auf Ps 84 nach dem konkreten Ort der alttestamentlichen Psalmbeter und -beterinnen im Tempel und seiner symbolischen Bedeutung, sucht mithin eine wichtige Schnittstelle zwischen Kosmologie, Alltags- und Sozialgeschichte auf. Diesen Ort erkennt Krispenz zu Recht nicht im Inneren, sondern im Hof des Tempels. Mithilfe archäologischer Einsichten zur Bedeutung des Hofs des Vierraumhauses wie der Palastanlage erhellt sie die Konnotationen des Aufenthalts im Tempelhof zwischen familiärer Vertrautheit und der Ehrfurcht einer Audienzsituation.
Der ebenfalls alttestamentliche Beitrag von Michael Fieger: Die Erschaffung der Schöpfung. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich zwischen Enūma Eliš und Gen 1,1–2,4a (65–88), wählt einen für das Rahmenthema vielversprechenden Gegenstand. Doch bleiben u. a. Intention und Ergebnis des Vergleichs der divergenten Enūma Eliš-Übersetzungen von Lambert und Talon (79 f.) unklar. Methodisch anzufragen ist auch, inwiefern die Darstellung der Götter in Enūma Eliš Rückschlüsse auf seine Anthropologie zulässt. Nicht zuletzt hinterlassen sachliche Unkorrektheiten, etwa die Zuordnung des Bilderverbots zur priesterlichen Theologie (82 f.) u. a., einen eher zwiespältigen Eindruck.
Der Beitrag von Jörg Lanckau (Altes Testament): Göttliche Reue und menschlicher Trost. Der Mythos der Zerstörung der Schöpfung und des Überlebens in der Katastrophe im Diskurs der biblischen Sintfluterzählung (89–130), bietet instruktive Überblicke über die vorderorientalischen Flutüberlieferungen, über den Mythosbegriff in Antike und Gegenwart, über Funktion, Ort, Zeit und Erscheinungsformen des Mythos und untersucht den mythischen Gehalt der biblischen auf dem Hintergrund der vorderorientalischen Flutüberlieferungen. Wichtige Beobachtungen, etwa zur Passivität Noahs, zur Reue Gottes allein beim Vernichtungsbeschluss u. a., hätten durch Einbettung in den Zusammenhang jeweils der priesterlichen und der nichtpriesterlichen Urgeschichte an Gehalt gewonnen. Doch wird dies durch ein widersprüch­liches Verhältnis zur Textgenese (vgl. 98 mit 123 u. passim) und die Scheinalternative: Erklärung der Textentstehung oder Verstehen eines Textes (99) verhindert.
Sigrid Hodel-Hoenes (Ägyptologie) leistet weniger einen Beitrag zu den in Ägypten erst späten Mythen im eigentlichen Sinn als vielmehr zu »Schöpfung im Alten Ägypten« (131–177). Anhand der kosmogonischen Mythen aus Heliopolis, Memphis und Hermopolis arbeitet sie die Überführung der undifferenzierten Einheit der präexistenten Welt in eine Polarität von Weltordnung (Maat) und Chaos heraus, die in einer creatio continua durch Überwindung des Chaos täglich neu konstituiert wird. Die selten belegte Vorstellung von einem Weltuntergang werde aber vorwiegend in der Drohung oder als Begebenheit in weiter Ferne thematisiert und enthält selbst vielfach den Gedanken eines Neuanfangs.
Insgesamt handelt es sich um einen interessanten Band, der das Desiderat einer gemeinsamen Arbeit der theologischen Fächer am Thema des Mythos in Erinnerung ruft und reich ist an Anregungen für die weitere Diskussion.
Eine Liste der Corrigenda ist bei der Rezensentin abzufragen.