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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

813–815

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Erlemann, Kurt

Titel/Untertitel:

Jesus der Christus. Provokation des Glaubens.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2011. X, 227 S. 22,0 x 14,5 cm. Kart. EUR 16,90. ISBN 978-3-7887-2536-5.

Rezensent:

Petr Pokorný

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Haacker, Klaus: Was Jesus lehrte. Die Verkündigung Jesu – vom Vaterunser aus entfaltet. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2010. 280 S. 22,0 x 14,5 cm. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-7887-2427-6.


Erschienen sind zwei Monographien mit dem Namen »Jesus« im Titel, ähnlichen Umfangs, in demselben Verlag herausgegeben, die beide von Fachmännern aus Wuppertal geschrieben, aber nicht nur für Fachleute, sondern auch für einen breiteren Umkreis interessierter Leser bestimmt sind. Beide interpretieren die neutestamentlichen Texte überwiegend synchron, d. h. so, wie sie als (wohl interpretierte) Erinnerungen an Jesus kanonisiert sind. Thematisch decken sie sich allerdings nur zu einem geringen Teil.
Nach Klaus Haacker sind die sachlichen Übereinstimmungen in den Informationen über Jesus von den gemeinsamen Quellen der Tradition abhängig, die einzelnen Unterschiede, die eine »dik­-tierte« Offenbarung (Wortinspiration) ausschließen, sind von ihrer ursprünglichen Mündlichkeit abzuleiten. Seine Darstellung der Lehre und der Verkündigung Jesu gestaltet Haacker aufgrund des Vaterunsers, in dem er den Kern der Tradition Jesu sieht.
Die Auslegung der Anrede und der ersten Bitte ist mit der Darstellung der Theologie Jesu verbunden und behandelt auch die Beziehungen zur römischen Macht (Kaiserkult) und zum Eigentum (Mammondienst, Sorgen). »Dein Reich komme« drückt die Eschatologie Jesu aus. Haacker geht von der zukünftigen Dimension des Reiches Gottes aus, die einen Protest gegen die vorfindlichen Zustände in der Welt bedeutet. Jesus hat das Reich Gottes nicht gebracht, sondern eher sein Kommen garantiert. Das Reich Gottes wird vor allem positiv, als ein Fest, charakterisiert, das in der Präsenz Jesu als solches vorweggenommen wird (Tischgemeinschaft). Die Parusieverzögerung wird als Gelegenheit zur Umkehr verstanden (Mt 13,36–43). Die Wirkung nach außen durch Umkehr und Einladung zum Fest (also kein Quietismus), die auf jede Gewalt verzichtet, ist die andere Seite der Erwartung des Kommens des Reiches. – Unter »Dein Wille geschehe …« wird alles das behandelt, was man individuelle Ethik nennen kann (Nächstenliebe, Konfliktbewältigung, Ehe), und die Deutung der Brotbitte schließt die Behandlung der Fragen der Sozialethik (Eigentum, arm und reich) ein. – Die Bitte um die Vergebung wird als Einleitung in die Soteriologie begriffen, einschließlich der Heilsbedeutung des To­des Jesu (Mk 10,45). – Eine spezifische Rolle spielt die Bitte »Führe uns nicht in die Versuchung«, die sich auf das Leiden in der apokalyptischen Endzeit bezieht (Mk 13,19.24). In diesem Zusammenhang wird auch die Rolle des Menschensohnes in den Traditionen über Jesus behandelt. – Im Epilog analysiert Haacker das Doppelgleichnis vom Hausbau (Lk 6,47–49 par.), um in ihm eine implizite Christologie Jesu zu suchen.
Überzeugend weist Haacker nach, dass das Vaterunser zu der ältesten Jesustradition gehört, und die Idee, die Verkündigung Jesu mit seiner Hilfe darzustellen, ist katechetisch instruktiv. Auch die Exegese der einzelnen Texteinheiten bereichert den Leser und zeigt ihm einzelne Aussagen in neuem Licht. Und doch ist das Porträt Jesu, das auf dem Grund des Vaterunsers gebaut ist, nicht vollständig. Es ist ein wenig harmonisiert, so dass Jesu Sicht des kommenden Reiches Gottes als des apokalyptischen Umbruchs, das Scheitern seiner Naherwartung und seine Todesangst, mit der er sich Gott anvertraut – alles also, was ihn den Menschen so nahe bring t– ausgeblendet wird. Haacker hat Recht, wenn er voraussetzt, dass der irdische Jesus von dem Osterglauben nicht zu trennen ist. Wir haben Zugang nur zu der nach Ostern tradierten Erinnerung. Jesus von Nazareth muss jedoch von dem auferstandenen Christus un­terschieden werden (vgl. 1Joh 4,1 ff.), so wie wir das Bezeugte von dem Zeugnis unterscheiden.
Kurt Erlemann schreibt über »Jesus, den Christus« (also kein »Jesusbuch«). Sein Buch bildet mit seiner Studie über Gott (Wer ist Gott?) und den Heiligen Geist (Unfassbar?) eine Trilogie. Die Traditionen über Jesus und das Zeugnis der kanonischen Schriften interpretiert er als lebendiges Zeugnis für die heutige Gesellschaft. Jesus schildert er als einen Charismatiker, dessen faszinierende Vision des kommenden Reiches Gottes mit überwältigenden Wundertaten, besonders den Exorzismen, verbunden war. Diese werden als Hinweise auf Gottes Schöpferkraft interpretiert, sind aber keine objektiven Beweise seiner göttlichen Vollmacht. Eindeutige Ich-Aussagen über die einzigartige Würde Jesu kommen in der synoptischen Tradition erst im Prozess (Mk 14,62). Man kann also mit Gewissheit nur sagen, dass Jesus von vielen Zeitgenossen als der erwartete Messias angesehen wurde. Politisch messianische Erwartungen hat er allerdings enttäuscht, auch wenn er als Thronanwärter gekreuzigt wurde (Kreuzesinschrift). Hingerichtet wurde er wegen seiner Ankündigung der Tempelreform, die mit der apokalyptischen Vision verbunden war, und wegen der Angst vor dem Prestigeverlust auf der Seite der Oberen. Das Ostergeschehen ist weder zu beweisen noch zu widerlegen. Sein Grundzeugnis ist die Erfahrung neuer Gemeinschaft mit Jesus und seiner Nähe im Geist. Die Lebensgeschichte des Paulus bezeugt, dass es sich dabei um keinen Wunschtraum handelt.
Der theologische Schwerpunkt des Buches ist die Darstellung der Interpretationen des Todes Jesu, die in den ältesten Zeugnissen des christlichen Glaubens zu finden sind: Entfernung des Sohnes Davids im ungerechten Prozess, Ermordung des (endzeitlichen) Propheten, stellvertretendes Leiden des Gerechten (Rollenaustausch; Jes 53), Selbsthingabe des guten Hirten (sein Tod ermöglicht das Kommen des Parakleten, der den ungläubigen Kosmos zum Glauben führt), Selbsterniedrigung als Voraussetzung der Erhöhung (Phil 2,6–11), Schlachtung des Passalamms, Vollendung des Jom-Kippur-Opfers (Sühne), Weihe des himmlischen Ho-henpriesters (Hebräerbrief), messianischer Bundesschluss (Jer 31; Abendmahlsworte), Sieg des Gottessohnes über Tod und Teufel. Der Schluss, wonach Gott das Opfer seines Sohnes brauchte, wird in der abschließenden Beantwortung einiger Anfragen überzeugend abgelehnt, weil es der Gerechtigkeit des Schöpfers widerspräche. »Gott brauchte nicht den Tod seines Sohnes, aber er gebrauchte das historische Geschehen in paradoxer Weise als Heilmittel zur Versöhnung mit den Menschen.«
Der letzte Teil ist der Entstehung und Funktion christlicher Be­kenntnisse gewidmet, besonders was ihre Bedeutung für die Hoffnung der Menschen betrifft. Erlemann skizziert die einzelnen christologischen Entwürfe von Markus, Matthäus, Lukas, Johannes, Paulus (in dieser Reihenfolge) und in der weiteren paulinischen Briefliteratur, wobei er sich vor allem auf die Deutung der Ostererfahrung, die Deutung des Todes Jesu und das Verhältnis zwischen Christusglauben und historischer Wirklichkeit konzentriert. Viele Einzelfragen werden frisch und inspirierend interpretiert. Schade, dass Erlemann sich bei der Interpretation der einzelnen Texte den Umweg über die Rekonstruktion des Weltbildes der ersten Zeugen (Re-Mythologisierung) erspart hat, was manchmal die Überzeugungskraft seiner Ausführungen schwächt.
Der rote Faden ist dennoch zu finden. Es ist die Deutung des Kreuzestodes Jesu als heilvolles Geschehen. Am Anfang versucht Erlemann, das Kreuz Jesu per analogiam zu interpretieren, die er in der freiwilligen Selbsthingabe (Verzicht auf Freizeit, Ruhe, Geld) vieler heutiger Menschen zugunsten der Mitmenschen sieht. Am Schluss geht er vom Kreuz Jesu als dem Symbol der Versöhnung aus, das die Wirksamkeit des Liebesgebots unter den Menschen in­spiriert.