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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

735–737

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mulia, Christian

Titel/Untertitel:

Kirchliche Altenbildung. Herausforderungen – Perspektiven – Konsequenzen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 399 S. m. Abb. 23,2 x 15,5 cm = Praktische Theologie heute, 110. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-17-021494-1.

Rezensent:

Ralph Kunz

Das Thema Alter und Altern ist in der Praktischen Theologie angekommen. Darauf verweisen die zahlreichen Publikationen, die in jüngster Zeit erschienen sind – wobei ein Großteil davon dem Graubereich der religionsgerontologischen Erbauungs- und Ratgeberliteratur zuzuordnen ist. Gleichwohl sind auch einige ge-wichtige Monographien und Sammelbände dabei. Die Mainzer Dissertation von Christian Mulia gehört gewiss nicht nur wegen ihres Umfangs dazu. Ihr Fokus ist die Geragogik, aber der Horizont ist weiter. Der Vf. bietet eine umfassende Gesamtsicht der kirchlichen Altenbildung und legt eine eigenständige Studie vor, die im Schlussteil für die zukünftige Gestaltung der Altenbildung in der Kirche religionsdidaktische, kirchentheoretische als auch professionstheoretische Implikationen formuliert.
Die Arbeit ist dreiteilig aufgebaut. Nach einer Einleitung (15–26) entfaltet Teil I (27–128) die soziologischen, kulturgeschichtlichen, biblisch-theologischen und philosophisch- wie theologisch-anthropologischen Grundlagen von Alter(n), Altenbildung und Religion. Die kirchliche Altersarbeit seit 1970 wird in zehn Ansätzen vorgestellt; die religions- und kulturhermeneutischen Herausforderungen der Altenbildung auf dem Hintergrund des gegenwärtigen Gestaltwandels des neuzeitlichen Christentums herausgestellt. In Teil II (129–332) konzentriert sich der Vf. – auf Sylvia Kade rekurrierend und eigene Akzente setzend – auf vier Lernfelder des Alters: Der Hauptteil der Studie schließt mit einem Ausblick auf kirchliche Rituale, religiöse Feste und sakrale Räume, die der Vf. als »Erscheinungsformen der expliziten (christlichen) Religion als Anlässe für kirchliche Altenbildung« versteht. Teil III (333–367) zieht Konsequenzen aus der Grundlegung und den Erkundungen in der kirchlichen Praxis. In religionsdidaktischer Hinsicht fordert der Vf. für die kirchliche Altenbildung eine offene religiöse Kommunikation, die Raum für Suchbewegungen lässt, aber durch die theologische Bestimmung des Alterns als einer Radikalisierung der Erfahrung der geschöpflichen Grundsituation vor Gott bestimmt wird. Die Spannung von Offenheit gegenüber der individuellen Gestalt und der Orientierung am grundsätzlich (christlichen) Gehalt des Religiösen wird durch die Forderung einer milieu- und lebensstilsensiblen Differenzierung bildungsstrategisch ergänzt. Dies wiederum ruft nach einer Ausdifferenzierung der kirchlichen Sozialgestalten. Die Studie schließt mit einem starken Votum für die gerontologische und geragogische Spezialisierung und Fokussierung der kirchlichen Profession(en).
Mit der enzyklopädischen Anlage seiner Studie geht der Vf. das Risiko ein, eine Auslegeordnung zu liefern, die weder gründlich noch ausführlich genug sein kann, um wirklich Neues zu bieten. Tatsächlich ist die Zielsetzung der Untersuchung – für eine Dissertation relativ untypisch und im Anspruch nicht unbescheiden – umfassend formuliert, nämlich »Herausforderungen und Chancen der kirchlichen Altenbildung in der Spätmoderne aufzuzeigen, und zwar mit dem doppelten Fokus darauf, wie die Bildungsangebote zu konzipieren sind (Lernorte, Zielgruppen, didaktische Prinzipien etc.) und in welcher Form christliche Religion in ihrer Wahrnehmungs-, Urteils- und Ausdrucksdimension sprachfähig werden kann.« (23) Dem Anspruch, eine solche multiperspektivische Gesamtsicht zu geben, wird die Studie weitgehend gerecht.
Der mittlere Teil ist das eigentliche Herzstück. Die vier Themenfelder des Alters werden nicht nur auf ihr Bildungspotenzial hin ausgelotet, sondern auch durch dichte, auf Interviews basierende Praxisbeschreibungen ergänzt. Im Unterkapitel »Kultur, Kunst und Ästhetik« werden als Beispiele für gute Praxis einerseits ein »Kulturführerschein« des Evangelischen Erwachsenenbildungswerks Nordrhein und des Diakonischen Werks Düsseldorf (257–267) sowie andererseits die »Kunstschule WERKSETZEN« in Düsseldorf vorgestellt (267–273). Der Vf. belässt es aber nicht dabei, sondern wertet seine Beobachtungen aus und bündelt sie zu handlungsleitenden Maximen. Dabei werden die Chancen und Herausforderungen der ästhetischen Seniorenbildung sowohl erfahrungsgesättigt wie theoriegeladen thematisch. Unter Rückbezug der zuvor entfalteten bildungstheoretischen und kulturhermeneutischen Überlegungen unterstreicht der Vf. den Gewinn, den Kooperationen mit anderen Akteuren auf dem Feld eintragen. Das Innovationspotential der Zusammenarbeit zeigt sich auf Seiten der kirchlichen wie säkularen Anbieter. Der Vf. ortet hier insbesondere auch die Chance, der »Verlebendigung und Horizonterweiterung von milieuverengten Gemeinden durch künstlerisch-schöpferische Impulse« (276) zu dienen – eine Perspektive, die im Plädoyer für ein milieusensibles, polyperspektivisches Grundangebot der kirchlichen Altenbildung (346–350) wieder aufgenommen wird.
Generell zeichnet die Untersuchung aus, dass sich die grundlegenden Linien nicht verlieren, sondern zu einem kohärenten Ganzen verflochten werden. Der Vf. beweist die bewundernswerte Gabe, im komplexen Themenfeld die Übersicht zu wahren. Als produktiv und weiterführend erweist sich dabei die Aufnahme von Wilhelm Gräbs religionskulturhermeneutischem Ansatz (127 f.), der gleichsam als theoretisches Gelenk fungiert. Durch dieses Ge­lenk gewinnt der Vf. für seinen multiperspektivischen Entwurf die nötige Weite, um den individualisierten Lebensentwürfen in der Gegenwartskultur gerecht zu werden. Dabei setzt er freilich eigene Akzente und kombiniert die religionstheologisch offene Konzeption der sinnreichen Kontingenzbewältigung mit einer dezidiert theologischen Sicht des Alterns (74–90). Diese Verdichtung erreicht der Vf. durch eine exemplarische Auseinandersetzung mit dem transzendental-philosophischen Ansatz von Thomas Rentsch. In seiner Entgegnung verweist der Vf. auf die Grenzen einer rein immanenten Perspektive auf den Menschen. Rentschs heroisch an­mutende »Annahme des Scheiterns« wird durch die »heilsamen Antwortperspektiven« (75), die der christliche Glaube eröffnet, relativiert und umgewandelt. Diese Antwortperspektiven bündeln sich in der Sicht des Menschen als Beziehungswesen und erschließen sich in der Lehre von der Rechtfertigung. Der Vf. bestreitet die philosophische These vom Altern als Radikalisierung der menschlichen Grundsituation nicht, aber modifiziert sie, indem er sie theologisch orientiert. »Menschliches Sein und Werden gilt es demnach von Gott her und auf Gott hin zu erfassen. Durch diese Perspektivenerweiterung können – nicht zuletzt die als krisenhaft oder bedrohlich wahrgenommenen – Lebenssituationen in einem anderen, heilvollen Rahmen erscheinen.« (86)
Da und dort fordert der Gesamtentwurf seinen Preis. In den biblisch-theologischen Betrachtungen zum Alter(n) wäre vielleicht mehr gewonnen, wenn weniger Themenfelder abgehandelt und nur summarisch entfaltet würden. Zum Beispiel könnte man beim Stichwort des »biblischen Alters« (43) an die »Arbeit am Mythos« in den urgeschichtlichen Narrationen denken. Die sagenhafte Hochaltrigkeit in der Frühzeit der Menschheit wird von den biblischen Autoren neu und anders erzählt – als Teil einer umfassenden Geschichte der Sünde und des Segens. Ähnliches ließe sich von der Altersweisheit sagen, deren Neuinterpretation in der kritischen Sicht der biblischen Weisheit – gerade mit Blick auf ihre eschatologische und kreuzestheologische Zuspitzung bei Paulus – eine breitere Entfaltung verdienen würde. Aber solche Hinweise auf Vertiefungsmöglichkeiten wollen dieser feinen und klugen Untersuchung nicht das Lob abspenstig machen, das sie zweifelsohne verdient.