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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

682–684

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Scherer, Hildegard

Titel/Untertitel:

Geistreiche Argumente. Das Pneuma-Konzept des Paulus im Kontext seiner Briefe.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2011. XII, 293 S. 23,2 x 15,5 cm = Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge, 55. Lw. EUR 50,00. ISBN 978-3-402-11438-4.

Rezensent:

Friedrich Wilhelm Horn

Diese von Martin Ebner betreute Arbeit wurde im Wintersemester 2009/10 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster als Dissertation angenommen. Deren Titel lautete noch: »Geistes-Gegenwart. Das Pneuma-Konzept und seine Relevanz in den Kontexten der Paulusbriefe«. Dieser Titel erscheint mir angemessener als der Titel des Buches, in dem Hildegard Scherer die »kommunikative Funktion (des Pneuma-Begriffs) in den Briefkontexten« (17) untersuchen und darstellen will. Also was nun? Pneuma-Begriff oder Pneuma-Konzept? Im Kontext der Briefe oder in Briefkontexten? Das sind nicht die einzigen sprachlichen Unklarheiten der Arbeit.
Nach einer einleitenden forschungsgeschichtlichen Verortung und wenigen methodischen Überlegungen analysiert die Vfn. die Pneuma-Aussagen in der Abfolge ihres Vorkommens im Neuen Testament im 1Kor, im Gal, im 2Kor und im Röm. Es schließt sich ein knappes Fazit an. Dieser Aufbau ist nicht sonderlich originell, aber im Kontext der These der Arbeit naheliegend. Völlig übergangen werden die Pneuma-Aussagen des 1Thess, des Phil und des Phlm. Dies ist durchaus zu bemängeln, da die Pneuma-Aussagen des 1Thess ein klares Profil in der theologischen Konzeption dieses Briefs einnehmen. Es ist keinesfalls damit getan, den 1Thess in lediglich einem Satz wie folgt zu paraphrasieren: »Kann Paulus sich gegenüber den Thessalonichern kurz fassen und sie im Wesentlichen in ihrem Werdegang bestätigen […|]?« (29) Freilich hängt die von der Vfn. getroffene Entscheidung mit der methodischen Ab­sicht zusammen, ausschließlich solche Textabschnitte zu besprechen, »die über eine Länge von mindestens zwei Satzeinheiten hinaus oder innerhalb einer charakteristischen Metapher das Pneuma thematisieren« (25).
Drei Leitfragen stehen am Anfang: Welches Pneuma-Wissen verhandelt Paulus mit seinen Adressaten? Welche sozialen und theologischen Optionen werden mittels dieses Konzeptes getroffen? Weshalb bietet sich der Begriff des Pneumas für die Kommunikation an? Mit anderen Worten: Die Arbeit versucht, »die Rede vom Pneuma in die ursprünglichen Kommunikationszusammenhänge der paulinischen Briefe einzuordnen« (9). Daher steht als These voran: »Paulinische ›Pneumatologie‹ entwickelt sich an den Herausforderungen der Lebenspraxis. Das Ergebnis dieser Arbeit lautet also, dass Paulus je nach Kontext verschiedene Nuancen des Pneuma-Begriffs aufruft, um damit gezielt seine Argumentation zu stützen.« (17) Er setze ein rudimentäres Wissen über das Pneuma gleich einem »Wissensbündel« voraus und aktiviere verschiedene kulturell verankerte konzeptionelle Anknüpfungspunkte (252 f.). Das Pneuma muss nicht mittels einer Definition eingeführt werden (22). Das kognitive Konstrukt werde erweitert und mit prak­-tischen, identitäts- und gruppenkonformierenden Konsequenzen versehen. Wie es zum Geistempfang bei dem Glaubenden komme, stehe für Paulus außerhalb des Interesses (252). Die Leistung des Pneuma-Begriffs sei es also, aus »einer einfachen konsensfähigen These des Pneumaempfangs eine Antwort auf sich aufdrängende Fragen der christusgläubigen Gruppen zu entwickeln« (259). Hermeneutisch vollziehe Paulus eine Akkomodation (260), er schließe Neues an Bekanntes an.
Die Vfn. profiliert nun die allgemeine kognitive Voraussetzung, den Geist Gottes empfangen zu haben, in jedem Brief auf solche Weise, dass sie aufzeigen möchte, an welche kulturell vorgegebenen Verständnismuster Paulus anknüpft und wie er sie erweitert. Sowohl die alttestamentlich-jüdische als auch die griechisch-römische Tradition werden als möglicher und gleich wesentlicher Assoziationshintergrund bedacht, den die Rezipienten in die Textreproduktion einspielen können. Die Vfn. verortet ihre eigene Arbeit durchaus in einer Nähe zu einer Dissertation von Monika Chris­toph aus dem Jahr 2005, die von einer »Assoziationskulisse« gesprochen hat, allerdings stärker auf Erfahrungen und nicht auf kog­-nitive Konstruktion achtete. Vier briefspezifische Sprachmuster werden beschrieben:
a) Die Rede von dem Pneuma als Offenbarungs- und Erkenntnismedium setzt die antike Vorstellung voraus, dass Menschen mittels des Pneumas in Kontakt mit der göttlichen Welt treten und zur Gottesschau befähigt werden. In der Korintherkorrespondenz spricht Paulus sich dafür aus, ausschließlich dem Pneuma – und nicht weltlicher Weisheit – solche Kraft zuzusprechen. Damit schafft er eine einheitliche epistemologische Grundlage.
b) Die Rede vom Pneuma als die Lebens- und Gestaltungsmacht des Schöpfers knüpft an antike physiologische Theorien an, die jedoch um den Gedanken der Neuschöpfung der Glaubenden und der Auferstehung Jesu Christi in der Kraft des Geistes erweitert werden.
c) Die Vorstellung von dem Pneuma als Garant der ethischen Ordnung knüpft an Vorstellungen der Schöpfungsordnung und der Weltvernunft an. Im Gal zeige Paulus, dass das Pneuma bereits in das rechte Gottesverhältnis stelle; daher seien jüdische Partikularnormen hinfällig. Ebenso zeige 2Kor 3, dass innerhalb des neuen Bundes wegen der Gabe des Geistes und der Gottesunmittelbarkeit auf eine äußere Normenvermittlung (Mose) verzichtet werden könne.
d) Da das Pneuma als Chiffre göttlicher Präsenz in der Gemeinde und im einzelnen Christen eingesetzt wird (Wohnstatt des Geistes, Tempelexistenz), vereinigt Paulus alle Gemeindeglieder auf dem höchstmöglichen religiösen Status. Gleichzeitig dient diese Beschreibung zur »Begründung der egalitären Grundnorm in der Gemeinde« (257). Auch hier knüpft Paulus an Vorstellungen eines göttlichen Anteils im Menschen an, die in der kaiserzeitlichen Stoa ausgearbeitet worden waren.
Gegenüber den meisten jüngeren Arbeiten zur paulinischen Pneumatologie, die der Autorenperspektive (Horn, Philip) verpflichtet sind oder eine theologisch-systematisierende Deutung anstreben (Dunn, Fee), verfolgt die Vfn. also einen wissens- und kommunikationstheoretischen Ansatz, der ausführlich vorgestellt und forschungsgeschichtlich verortet wird (2–24). Damit wird die Blickrichtung umgedreht. Nicht die klassischen definitorischen Fragen nach Substanz oder Kraft, nach christologischem oder theo­logischem Geistverständnis und nach einer Paulus leitenden Tradition werden gestellt. Auch wird nicht mehr das Gespräch mit denjenigen Autoren gesucht, deren Arbeiten hier bestimmend waren (ich vermisse z.B. Eduard Schweizer, Ferdinand Hahn, Sa­muel Vollenweider u.a.). Vielmehr werden die Funktion und die Wirkung eines relativ allgemeinen, »offenen« Geistbegriffs innerhalb der Kommunikation mit den Gemeinden beschrieben. Die Vfn. bietet oftmals erfrischend neue Perspektiven auf alte Texte. Ihre Arbeit stellt auf jeden Fall eine Bereicherung für das Verständnis der neutestamentlichen Pneumatologie dar.