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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

651–654

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Feldmeier, Reinhard, u. Hermann Spieckermann

Titel/Untertitel:

Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XX, 689 S. 23,2 x 15,5 cm = Topoi Biblischer Theologie. Topics of Biblical Theology, 1. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-150548-5.

Rezensent:

Walter Klaiber

Es ist still geworden um das Projekt Biblische Theologie. Umso er­freulicher ist es, dass der Göttinger Alttestamentler Hermann Spieckermann und sein Göttinger Kollege im Neuen Testament Reinhard Feldmeier es wagen, »eine biblische Gotteslehre« zu veröffentlichen, und damit auch den ersten Band einer neuen Reihe Topoi Biblischer Theologie vorstellen. Dieser erste Band scheint als Programmschrift gedacht zu sein.
Das Buch ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Er­staun­lich ist schon, dass es sich um ein gemeinsam verantwortetes Werk handelt. Es bedarf zwar keiner großen literarkritischen Schulung, um die verschiedenen »Hände« und ihre unterschiedliche Arbeitsweise zu unterscheiden, aber die Beiträge gehen nahtlos ineinander über und formen ein Werk, das aus einem Guss ist.
Über die theologische Zielsetzung gibt die Einleitung Auskunft. Diese Gotteslehre will »sich nicht damit begnügen, ergebnisoffene Kompetenzgewinnung in Sachen Religion zu sein. Sie muss vielmehr dem normativen Anspruch ihrer Quellen entsprechen, den biblischen Gott als den Gott der Lebendigen zur Sprache zu bringen« (2). Gotteslehre muss »im Modus theologischer Argumentation Gotteswissen mit dem Ziel der Erkenntnis vermitteln, dass der Mensch nur da sein Leben in einem qualifizierten Sinne wahrnehmen kann, wo er Gott als den Geber und Retter seines Lebens erkennt und als den Herrn über sein Leben anerkennt« (7).
Von bisherigen Entwürfen einer Biblischen Theologie unterscheidet sich das Unternehmen dadurch, dass es keine Synthese der theologischen Traditionen beider Testamente bieten will, sondern eine thematisch aufgebaute biblische Gotteslehre. Wir bekommen also keine Übersicht über die einzelnen Theologien z. B. der Pries­terschrift oder des Paulus, aber auch keinen Querschnitt aller theologisch erheblichen Themen geboten. Weil aber die Aussagen über Gott eine Fülle weiterer Themen berühren, entsteht doch so etwas wie eine biblische Theologie in nuce, und da in der Darstellung sorgfältig zwischen verschiedenen Schriften und literarischen Schichten unterschieden wird, wird auch das theologische Profil mancher Traditionen oder Autoren in Grundzügen sichtbar.
Aber das ist nicht das eigentliche Ziel dieser Darstellung: »Bei aller historisch-kritischen Differenzierung im Blick auf einzelne Schriften und Traditionen ist sie von dem Interesse bestimmt, zu einer möglichst konsistenten, Gemeinsamkeiten wie Unterschiede profilierenden Darstellung der unterschiedlichen Aspekte der bib­lischen Rede von Gott zu kommen« (9). Ähnlich dialektisch wird auch das Verhältnis von Altem und Neuem Testament gesehen. Die Autoren sehen sich einem Interpretationsmodell verpflichtet, »das die theologische Konvergenz zur Grundlage der Divergenz macht« (10). Hier ist also kein Platz für einlinige heilsgeschichtliche Entwicklungsmodelle. Bei der Lektüre erinnert sich der Leser nicht selten an das Stichwort »kontrastive Einheit« (B. Janowski), und zwar nicht nur im Blick auf das Verhältnis von Altem und Neuem Testament, sondern auch im Blick auf das spannungsvolle Nebeneinander mancher Aussagen innerhalb der Testamente, die von den Autoren ohne theologische Retuschen herausgearbeitet werden.
Im Unterschied zu dem Ansatz einer kanonischen Exegese, wie sie Brevard Childs vertrat, orientieren sich die Autoren auch nicht an der Endgestalt der kanonischen Bücher. Vor allem im Alten Testament werden diffizil verschiedene literarische Schichten in den einzelnen Schriften unterschieden und ihr unterschiedliches theologisches Profil ausgewertet. Dennoch ist die Normativität des christlichen Kanons wichtig. Aber das heißt auch, die Geschichte dieser Normativität zu berücksichtigen. Darum halten die Autoren es nicht für nötig, sich für den hebräischen Kanon oder den Kanon der Septuaginta zu entscheiden, weisen aber nachdrücklich darauf hin, dass auch letzterer ursprünglich ein jüdischer Kanon war (10 f.). Die Dynamik ihrer Darstellung macht eine solche Festlegung auf ein Entweder-Oder nicht nötig. Das dürfte auch der Grund sein, warum sie nicht nur das Zeugnis der deuterokanonischen Schriften einbeziehen, sondern auch das anderer frühjüdischer Schriften, insbesondere aus Qumran, berücksichtigen. Hier verschwimmt die Grenze zwischen Darstellung der Entwicklung und Rezeption des biblischen Gottesglaubens und einer dezidiert biblisch orientierten Theologie.
Wie aber wird das Unternehmen inhaltlich durchgeführt? Das Werk gliedert sich in zwei etwa gleich umfangreiche Teile: A Grundlegung (15–249) und B Entfaltung (251–514). Der erste Teil soll die biblischen Aussagen von »Gottes Wesen« behandeln, das sich dann in »Gottes Wirken« entfaltet, von dem im zweiten Teil die Rede sein soll (13). Die Autoren betonen aber, dass dies nur eine notdürftige Kennzeichnung der beiden Schwerpunkte sein kann, da sich nach biblischem Verständnis Gottes Wesen in seinem Wirken zeigt. So sind auch die einzelnen Abschnitte, in denen von Gottes Wesen gesprochen wird, keine Abhandlungen über Gottes Wesen an sich, sondern Konkretisierungen des Beziehungswillens Gottes, der für Gottes Wesen essenziell ist (13).
Die Überschriften der sechs Kapitel des ersten Teils beschreiben relativ klar ihren Inhalt: I Der Name und die Namen (17–50), II Vom Herrgott zum Gottvater (51–92), III Der Eine als der Einende (93–125), IV Der Liebende (126–148), V Der Allmächtige (149–202), VI Geist und Gegenwart (203–249). Auffallend ist, dass der Abschnitt über den Allmächtigen am umfangreichsten geraten ist, gefolgt von dem über den Geist.
Der zweite Teil hat eine etwas komplexere Gliederung. Drei Un­terteile werden noch einmal in je vier Kapitel untergliedert. Auch hier verraten Zuordnungen und Formulierungen schon viel über die dahinterliegende systematische Konzeption: I Gottes Zu­wendung (253–338) gliedert sich in 1 Wort und Schöpfung, 2 Segen und Lob, 3 Gerechtigkeit und Rechtfertigung, 4 Vergebung und Versöhnung; der nächste Teil II Gottes Zumutung (339–423) entfaltet sich in 1 Verborgenheit und Zorn, 2 Leid und Klage, 3 Vergänglichkeit und Tod, 4 Ewigkeit und Zeit; und der letzte Teil III Gottes Zuspruch (424–514) besteht aus 1 Gebot und Gebet, 2 Bund und Verheißung, 3 Gericht und Rettung, 4 Hoffnung und Trost. Der Beschluss: Der Gott der Lebendigen (515–546) bietet eine von neutestamentlichen Aussagen ausgehende Reflexion des Titels des Buches. Eine Bibliographie und ein Stellen- und Sachregister schließen das Werk ab.
Es ist nicht möglich im Rahmen einer Rezension die Fülle dessen zu entfalten, was in diesem Werk geboten wird. Ich nenne nur einige Themen, die ich vom Ansatz her besonders gelungen finde, so (trotz Rückfragen im Einzelnen) die Ausführungen zu Gerechtigkeit, Rechtfertigung und Stellvertretung (287–309), zu Sühne und Vergebung (312–338) und zum Todesgeschick des Menschen (387 ff.). Eindrucksvoll sind die differenzierte Beurteilung der Johannesoffenbarung (360 f.) und die eindringliche Hiobinterpretation (371 f.).
Natürlich bleiben Fragen offen. Die meisten Teile beginnen mit dem Alten Testament (Ausnahme: A IV: Der Liebende). Das Alte Testament gibt also die Kategorien vor. Darum gibt es ein Kapitel über den Geist, das auch trinitarische Implikationen aufzeigt, aber nicht über Christus. Das heißt nicht, dass christologische Aussagen fehlen. Sie tauchen immer wieder auf, vor allem in den ersten drei Kapiteln der Grundlegung. Grundsätzlich ist das Werk von der Überzeugung getragen, »dass sich im neutestamentlichen Zeugnis von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus verdichtet, was das Alte Testament vorgedacht hat« (537). Aber es fehlt eine dem Kapitel über den Geist entsprechende Gesamtschau.
Zu überlegen ist auch, ob aus neutestamentlicher Sicht eine biblische Gotteslehre sachgemäß ist, deren »Grundlegung« in einer Entfaltung des »Wesens« Gottes anhand von Gottesbezeichnungen besteht. Bei Paulus wird Gott durch sein Tun »definiert« (Röm 4,5.17.24). Dieser Aspekt ist in dem Buch präsent, aber er strukturiert nicht die Darstellung.
Etwas irritierend für den Nicht-Alttestamentler ist die Tatsache, dass die Interpretation der alttestamentlichen Texte auf einer subtilen Rekonstruktion literarischer Schichten und Beziehungen beruht, die mit der neueren Literarkritik zu überraschenden Spätdatierungen neigt (z. B. Konfessionen des Jeremia oder Hos 1,2–2,3 nachexilisch). Gerne würde man irgendwo nachprüfen, ob dieses Konstrukt konsistent ist.
In den Kern des Unternehmens führt eine letzte Anfrage: Das Werk besticht durch seine klare Differenzierung der unterschiedlichen theologischen Akzentsetzungen verschiedener biblischer Traditionslinien zu bestimmten Themen. Und in der Regel bedarf es auch keiner zusätzlichen, von den Auslegern gelieferten Synthesen, um zu erkennen, dass in den Divergenzen eine grundsätzliche Konvergenz entfaltet wird. Aber an manchen Stellen bleiben doch Fragen offen. Lassen sich die beiden ganz unterschiedlichen Bun­destheologien des Deuteronomiums und der Priesterschrift (446–453) in ein gemeinsames Ganzes einzeichnen? Wird durch die vom Alten Testament her sehr positiv geprägte Auffassung vom Gesetz (vgl. »Gebot und Gebet«) das paulinische Gesetzesverständnis nicht an den Rand gedrängt? Es gibt zwar einen Abschnitt »Verheißung versus Gesetz« zu Gal 4 (459–462), aber keine Auseinandersetzung mit Röm 10,4. Und ganz zentral die Frage: Hätte nicht doch das Nebeneinander so unterschiedlicher Aussagen über Gott wie die im Deuteronomium und im Buch Hiob (Stichwort: »Satanisierung Gottes«) einer systematischen Reflexion über den einen Gott der Bibel bedurft?
Diese Anfragen wollen nicht Kritik sein, sondern Hinweis auf die Fülle der Herausforderungen, die das Buch bietet. Alle, die an einer theologischen Interpretation der biblischen Schriften interessiert sind, werden den Autoren dankbar sein, dass sie das Wagnis eines solchen Werkes eingegangen sind. Handwerklich ist es solide gearbeitet; wenige Unebenheiten, die mir aufgefallen sind, können in der sicher notwendigen 2. Auflage behoben werden.