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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

91 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lauterer, Heide-Marie

Titel/Untertitel:

Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft. Der Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser in den ersten Jahren des NS-Regimes.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. 240 S. m. 4 Abb. gr.8o = Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 22. geb. DM 58,­. ISBN 3-525-55722-1.

Rezensent:

Reinhard Turre

Der Umkreis, in dem die verdienstvolle Forschungsarbeit stattfinden konnte, bildete eine gute Voraussetzung für dieses gelungene Werk. Die Profanhistorikerin Heide-Marie Lauterer ist angeregt durch die Forschungen zum Kirchenkampf, wie sie durch H. E. Tödt und E. A. Scharffenorth in Heidelberg betrieben wurden. Gerta Scharffenorth hatte die Vfn. schon an ihren Studien über die Schwesternschaften beteiligt. Das hat L. unmittelbaren Zugang zu wichtigen Vertreterinnen der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie verschafft. So wird nicht nur über den Kaiserswerther Verband auf Grund von Texten berichtet, sondern von der Mutterhausdiakonie unmittelbar und anschaulich geschrieben auf Grund direkter Begegnungen und Gespräche auch mit Zeitzeugen und jenen, die das zugleich verpflichtende wie belastende Erbe heute zu vertreten haben. Der Vfn. ist zu danken, daß sie "nicht vom schmalen Pfad der Historie abirrte" (7).

Der Verführung zu vorschneller Interpretation und zu eigener Profilierung hat die Vfn. erfolgreich widerstanden. Sie registriert umfassend, konkretisiert exakt und konzentriert ihre Darlegungen auf die Jahre 1933/1934. Wie sich der Kaiserswerther Verband als größter evangelischer Schwesternverband in dieser Krisenzeit bewährte, wo er in seinen Vertreterinnen und Vertretern versagte und wie er zu neuer eigener Standortbestimmung gekommen ist, das ist L.s eigenes Thema. Der Untersuchungsgegenstand unterscheidet sich damit von den Arbeiten J.-Chr. Kaisers und K. Nowaks, die entweder allgemeiner sind oder unter Beachtung der konkreten Problematik von Sterilisation und Euthanasie grundlegende Forschungsergebnisse für diese Zeit vorgelegt haben. So wird der eigene Ansatz L.s am Beispiel des Kaiserswerther Verbandes die Voraussetzung für ein ertragreiches Ergebnis, das zugleich den Versuch beschreibt, die Selbständigkeit diakonischer Arbeit zu bewahren und redlich die Versuchung zur Anpassung darstellt, die es gegeben hat und der Vertreterinnen und Vertreter der Mutterhausdiakonie besonders in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus nicht immer widerstanden haben.

Die Stichworte für die beiden Hauptteile der Arbeit "Anpassung und Selbständigkeit" sowie "Kooperation und Resistenz" beschreiben Koordinaten diakonischen Handelns in jeder Epoche. Was sich als Erkenntnis aus Krisenzeiten wie den Jahren 1933/34 gewinnen läßt, wird zu bewußterem Umgang mit den Möglichkeiten und Versuchungen der Gegenwart anleiten. Nur einige Arbeitsergebnisse L.s können unter diesem Gesichtspunkt hier hervorgehoben werden. Noch im ersten, die Voraussetzungen schildernden Teil, arbeitet die Vfn. die mangelnde politische Bildung der Diakonissen als Grund der Anfälligkeit ganzer Mutterhäuser für nationalsozialistisches Gedankengut heraus (38-48). An den Beispielen von Lauerer-Neuendettelsau und von Lüttichau-Kaiserswerth wird die bedenkliche Abhängigkeit großer Schwesternschaften von den politischen Urteilen ihrer Vorsteher deutlich gemacht.

Es wäre möglich gewesen, die Entwicklung in den einzelnen Einrichtungen weiter zu verfolgen. Statt dessen begibt sich die Vfn. auftragsgemäß in den folgenden Hauptteilen auf die Ebene des gesamten Verbandes. Diese Konzentration führt natürlich zu einer gewissen Einengung, weil die Beweggründe für die Äußerungen führender Vertreter der Mutterhausdiakonie nicht auf der Verbandsebene, sondern in den Erfahrungen in den einzelnen Mutterhäusern liegen. Auf der Verbandsebene wurde nur zum Ausdruck gebracht, was man vor Ort schmerzlich erfuhr und zumeist vorher schon dort streitbar ausgetragen hatte.

Nähe und Distanz zu den Landeskirchen ist, wie L. gut herausarbeitet, schon ein Thema seit dem Beginn der Weimarer Republik. Die unterschiedliche Situation bestimmte auch die verschiedene Argumentation. Je gefährdeter die Selbständigkeit der Mutterhäuser durch staatliche Eingriffe war, um so stärker haben sie die Verbindung zur Landeskirche gesucht. Je stabiler das Verhältnis von Staat und Kirche war, um so eigenständiger sind die Mutterhäuser geführt worden. Das wird an den Beispielen Lauerer-Neuendettelsau, von Lüttichau-Kaiserswerth und von Bodelschwingh-Bethel verdeutlicht.

Unklar bleibt der Vfn. offenbar, daß das Diakonissenamt sehr wohl als ein kirchliches Amt angesehen werden kann (100). Auch brauchte sich der Kaiserswerther Verband nicht erst als kirchlicher Verband zu "stilisieren" (ebd.). Die Mutterhausdiakonie hat sich immer als Wesensbestandteil der Evangelischen Kirche begriffen. Nur war die Kirche selbst nicht so durchorganisiert, als daß dies gesamtkirchlich immer auch organistorisch genau definiert werden konnte. L. denkt hier zu sehr vom Freien Wohlfahrtsverband her, ohne die kirchliche Verankerung der Mutterhausdiakonie und ihre personelle Verpflichtung in der jeweiligen Landeskirche gut genug zu würdigen. Mit den Unsicherheiten in den Jahren 1933/34 hat ja vielmehr die Mutterhausdiakonie gerade Anteil an den Unklarheiten in der jeweiligen Landeskirche.

Das entgeht der Vfn., weil sie nur die gesamtdeutsche Ebene im Blick hat, aber nicht die viel stärkeren Landeskirchen mit ihren durchaus unterschiedlichen Stellungnahmen in Blick nimmt. Es liegt auch eine Fehleinschätzung über die Möglichkeiten des Kaiserswerther Gesamtverbandes vor zur Intervention im Zusammenhang mit dem schrecklichen Euthanasieprogramm. Richtig ist die Kritik der Vfn., daß sich der Verband nicht zu einer theologisch klaren und ethisch eindeutigen Grundentscheidung gegen die sich schon andeutenden Absichten der Nationalsozialisten entschlossen hat, bevor es überhaupt zu den Euthansieaktionen gekommen ist (138 ff.). Als Verband selbständiger Einrichtungen bestand aber kaum die Möglichkeit, praktische Angebote zur Unterbindung der Euthanasiekationen in den einzelnen Einrichtungen zu machen. Bodelschwinghs Aktion der Veröffentlichung des mörderischen Umbruchs war die einzige Möglichkeit, die bestand. Richtig werden von der Vfn. die Gründe für das Schweigen in Neuendettelsau beschrieben. Die Erlanger Ordnungstheologie hat es Lauerer viel schwerer gemacht, öffentlich kritisch Stellung zu beziehen, als dem aus anderer theologischer Tradition kommenden von Bodelschwingh.

Ein besonders gut gelungenes Stück in der vorgelegten Dissertation ist die Beschreibung der zögernden Annäherung des Kaiserswerther Verbandes an die Bekennende Kirche. Hier hat L. sehr genau die Auswirkungen der Bekenntnissynode von Barmen auf wichtige Vertreter des Kaiserswerther Verbandes beschrieben (157-178). Die exemplarisch ausgewählten Mutterhäuser ergeben ein differenziertes Bild zum Thema "Kooperation und Resistenz" (182-198). Hin und wieder deutet L. an, daß sich aus den Biographien einzelner Schwesternpersönlichkeiten bisher noch nicht bekannt gewordene Geschichten des Kirchenkampfes im Nationalsozialismus erheben ließen.

Das Urteil L.s ist nicht durch die Besserwisserei der nachträglich wertenden Betrachterin bestimmt, sondern ist von dem Verständnis geprägt, das durch eingehende historische Forschung gewonnen worden ist. Die Kritik am Verhalten im Kaiserswerther Verband in den Jahren 1933-34 ist sachlich. So wird die vorgelegte Studie zur Schärfung der Verantwortung in der diakonischen Arbeit von heute den heute Handelnden zur Lektüre empfohlen.

Zwischen Kooperation und Resistenz hat auch heute die institutionelle Diakonie ihren Weg zu finden. Der Leser aus dem Osten wünscht sich eine Fortsetzung der Studien L.s am Beispiel des Weges des Diakonischen Werkes unter den Bedingungen des bevormundeten Staates im Osten Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg. Die hier gefundenen Kriterien könnten eine Hilfe für diese noch ausstehende Arbeit sein.