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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

601–602

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kumlehn, Martina, u. Thomas Klie [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Protestantische Schulkulturen. Profilbildung an evangelischen Schulen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 441 S. m. Abb. 24,0 x 17,0 cm. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-17-021543-6.

Rezensent:

Martin Schreiner

In der Trägerschaft von Einrichtungen der verfassten Kirche oder der Diakonie, von Schulstiftungen, Schulwerken oder Schulvereinen mit mehr oder weniger deutlich ausgeprägter kirchlicher Bindung werden aktuell insgesamt deutschlandweit in über 1000 evangelischen Schulen als Lebens-, Lern- und Erfahrungsräumen für die Kommunikation des Evangeliums im Rahmen einer guten Schule annähernd 150.000 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Unter ihnen sind 340 allgemeinbildende Schulen, 484 berufsbezogene Schulen und 215 sonderpädagogische Schulen. Damit besuchen derzeit etwa 1,1 % aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland eine Schule in evange­lischer Trägerschaft. Etwas mehr als 2 % aller Schulen befinden sich in evangelischer Trägerschaft. Die Zahl wächst kontinuierlich, vor allem in Ostdeutschland, wo seit der Wende über 250 Schulen in evangelischer Trägerschaft entstanden sind.
Es ist das Verdienst der Herausgebenden dieses vorzüglichen Bandes, nach dem 1999 erschienenen »Handbuch Evangelische Schulen« erstmals wieder eine umfassende Bestandsaufnahme der theoretischen Selbstreflexion und Profilbildung der Evangelischen Schulen zu veröffentlichen. Es gelingt den Beiträgen, die grundlegenden pädagogischen und theologischen Fragen hinreichend zu beantworten sowie hinlänglich zu bestimmen, welchen kulturellen Ort konfessionelle Schulen in einer offenen Bildungslandschaft besetzen sollen. Folgende zentrale Fragestellungen, die die Profilbildung direkt oder indirekt beeinflussen, werden von namhaften Experten konzentriert aufgenommen, jeweils aus zwei Perspektiven bearbeitet und am Ende jedes Artikels mit Fragen und Impulsen für die Weiterarbeit versehen: Ideengeschichte und Leitfiguren, Selbstwerdung und Identität, Bildung und Personalität, Kultur und Pluralität, Management und Verantwortung, Evangelium und Schulgemeinde, Schulalltag und Schulseelsorge, Ästhetik und Spiritualität, Rhythmen und Räume, Feste und Performanz, Religiöse Kompetenzen und Fächerkulturen, Ethos und Demokratie, Schulpolitik und Schulträger, Leitung und Evaluation sowie Wirklichkeit und Empirische Forschung. Zu Recht halten die Herausgebenden in ihrer Einleitung fest: »Damit wird die Vielstimmigkeit des Diskurses abgebildet und das Feld neu vermessen. Zugleich soll dem Sachverhalt Rechnung getragen werden, dass es zwar das eine Schulprofil angesichts unterschiedlicher protestantischer Schulkulturen gar nicht geben kann, sehr wohl aber inhaltlich-thematische Aspekte, zu denen sich jede Profilbildung ins Verhältnis setzen muss.« (10).
Ein solcher inhaltlich-thematischer Aspekt ist beispielsweise die Frage nach dem Verhältnis reformpädagogischer Traditionen und ihrer evangelischen Rezeption. Horst F. Rupp und Susanne Schwarz merken dazu an: »Für eine zeitgemäße Kommunikation protestantischer Bildung liegt nicht der Traditionsverweis um der Selbstsorge willen nahe, vielmehr bietet sich als ureigener erneuerungs- wie ursprungsbezogener Modus – und damit als unabgeschlossenes Reform- wie Rezeptionsmotiv – die Frage danach, wie und ob im Bildungs- und Erziehungsgeschehen vom simul iustus et peccator die Rede ist, an.« (43) Luzide beschreibt Friedrich Schweitzer Perspektiven eines protestantischen Bildungsverständnisses und findet davon in nachfolgenden Aspekten Realisierungen in evangelischen Schulen: Bildung für Demokratie und zivilgesellschaftliches Engagement; Pluralität und Verständigung; Bildungsgerechtigkeit; Heterogenität bejahen; Globales Lernen – Zusam­menleben in Frieden; Religiöse Bildung als unverzichtbarer Bestandteil und Dimension aller Bildung (87 f.). Weiterführend sind zweifellos auch die Überlegungen von Martina Kumlehn zur Profilbildung evangelischer Schulen im Spannungsfeld von Eigenem und Fremden, die in den beiden Sätzen kulminieren:
»Wenn bei allen Bildungsprozessen zur christlichen Religion in Anschlag gebracht wird, was schon Schleiermacher in seiner dritten Rede festgehalten hat, dass Religion kein anderes Mittel kennen darf, als sich frei zu äußern und mitzuteilen, um im Anderen freie Resonanzen hervorzurufen, dann können gerade die Evangelischen Schulen Orte einer exemplarischen multiperspek­tivischen religiösen Bildung werden, die die in dieser konzentrierten Form einmalige Chance haben, religiöse Primärerfahrungen in einer Vielfalt der Formen zu ermöglichen, diese zugleich mit unterschiedlichsten reflexiven Bildungsprozessen zu verknüpfen, in der Vernetzung verschiedener Fächer und in Verbindung mit lebensweltlichen Medien spannende Kontaktflächen rund um religiös valente Themen anzubieten und damit zu zeigen, wie sich christliche Religion und Kultur bedingen und wie Religion kritisches Ferment der Kultur sein kann. Evangelische Schulen sollten heterotope Orte, d. h. einerseits aus der Gesamtkultur besonders herausgehobene Orte, anderseits Orte mit Spiegelfunktion für die Gesamtkultur sein, die sich mit ihrem spezifischen Bildungsbeitrag für diese verantwortlich fühlen.« (117.)
Sehr lesenswerte Impulse enthalten zudem die Beiträge von Bernhard Dressler zu »Religionsunterricht an Evangelischen Schulen« (276–293) und Christoph Th. Scheilke zu »Fächerkulturen und evangelisches Profil« (294–306). Abgerundet wird der hervorragende Band mit Ausführungen von Annette Scheunpflug zu »Anspruch und Wirklichkeit evangelischer Schulen« (405–419) und Manfred Pirner zu »Protestantische Unterrichtskultur als Forschungs- und Entwicklungsaufgabe an evangelischen Schulen« (420–438).