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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

576–577

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kimmerle, Heinz

Titel/Untertitel:

Vernunft und Glaube im Gleichgewicht. Ein philosophischer Lebensweg.

Verlag:

Freiburg/München: Alber 2010. 282 S. 22,5 x 14,0 cm. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-495-48444-9.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Bücher, die Theologie und Philosophie in ein Verhältnis zu setzen versuchen, füllen ganze Bibliotheken. Dies sind in unserer euro­-päischen Geistesgeschichte wichtige Reflexionsbemühungen, die etwa seitens der Theologie bestrebt sind, das Christentum als denkende Religion zeitgemäß zu verorten – auch ohne an der Vorstellung von der Philosophie als ancilla theologiae zu partizipieren.
Ganz anders ist der Ansatz (13–34) dieses Buches von Heinz Kimmerle: »Es geht nicht um ›das Religiöse nach der Religion‹ in der europäisch-westlichen Welt, sondern darum, welche Gestalt Religion und Glaube in ihrer Zuordnung zur Vernunft, die sich geschichtlich und interkulturell ständig verändert, im gegenwärtigen Denken annimmt und wie dieses Verhältnis im Sinn einer Gleichberechtigung beider beeinflusst werden kann.« (21) Aus der vielbeachteten Diskussion zwischen Richard Rorty und Gianni Vattimo über die Zukunft der Religion, in der beide im verantwortlichen bzw. liebevollen Verhalten der Menschen zueinander eine religiöse Dimension erkennen, leitet K. für seinen Ansatz ab, dass »die anthropologische Konstante des Glaubens eine sinnvolle Annahme ist, die im Gegenüber zur Vernunft, als das ›Andere der Vernunft‹ zu rehabilitieren ist« (24). Damit ist der reinen Vernunftorientierung europäischen Denkens die Erfahrung von Spiritualität nicht entgegengesetzt. Vielmehr werden die authentischen religiösen Erfahrungen des Absoluten der Bedeutung der Vernunft gleichgesetzt. Zugleich widerspricht K. der Vorstellung einer wahren Religion, die andere Religionen ausschließt, denn die religiöse Erfahrung ist für ihn primär individuell und nicht nur am Monotheismus aussagbar: »›Auch der Animismus kann Wege öffnen, die Erfahrung der Spur Gottes‹ in der Welt auch im eigenen Leben sichtbar zu machen.« (26) Seine eigene Ausarbeitung einer interkulturellen Philosophie und Erfahrungen speziell mit Afrika führen K. zu einer positiven Bewertung des Animismus, da er hier die »Sorge des Menschen für das Gleichgewicht aller geistigen Kräfte, verbunden mit einer hohen Achtung vor der Natur, die ihrer Ausbeutung und radikalen Instrumentalisierung entgegensteht« (27), besonders vermerkt. So überrascht auch sein Vorschlag nicht, den Animismus als sechste große Weltreligion neben Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus anzuerkennen. Von der interkulturellen Philosophie versteht sich der globale Kontext dieses Denkens, das die Glaubensinhalte in ihren jeweiligen Wahrheitsansprüchen zwar vernünftig zu klären sucht, aber nicht vollständig erfassen kann: »Glaube steht für die Tiefendimension des menschlichen Lebens, die nicht oder vollständig durch philosophisch-vernünftiges Denken ausgelotet werden kann« (31), wie es für die Grenzfragen nach Sinn, Leben, Tod, Hoffnung, Verzweiflung etc. gilt, da sie sich eben nicht allein rein vernünftig beantworten lassen.
Da K. von seinem individualitätsorientierten Ansatz keinen allgemeinen theoretischen Ansatz entwickeln kann, um das erstrebte Gleichgewicht von Vernunft und Glaube zu erreichen, verweist er auf seine eigene Autobiographie zur Beglaubigung seiner Intention, denn sein Leben sei ganz von diesem Anliegen geprägt. Entsprechend zeichnet K. sein Leben nach (35–241): Von seinem Herkommen aus freikirchlich geprägtem Pietismus, zur Aufnahme seines Studiums der Germanistik und evangelischen Theologie, dem Studienwechsel zur Philosophie und den akademischen Stationen, besonders Bochum und Amsterdam, ist die Rede, aber es wird auch viel aus der persönlichen Biographie mitgeteilt. Die Einzelheiten übergehe ich, für die Thematik von Vernunft und Glauben ist K.s Feststellung wichtig, dass ihm in Amsterdam die christliche Religiosität abhanden gekommen ist, denn die Philosophie »befriedigte zugleich mein religiöses Bedürfnis« (121), wobei ergänzend die Kunst, der Religion darin vergleichbar, jedoch ohne deren Leibfeindlichkeit, ihm die »Tiefendimensionen des Menschseins« (126) erschloss. In Afrika schließlich, bei der interkulturellen Erforschung der dortigen Philosophie, eröffnete sich ihm wiederum die Religion, vermittelt durch den Animismus, neu (164–224): »Eine Religion des Lebens und der Beseeltheit aller Dinge hat meine größte Sympathie« (232). In Aufnahme der »Philosophie der Differenz« (Derrida) und der »Reflexion des Anderen« (Levinas) geht es K. in ethischem Sinn »darum, des Spiels der gesellschaftlichen, natürlichen und kosmischen Kräfte und des Erhalts ihres Gleichgewichts eingedenk zu sein und nach dem eigenen Vermögen dazu beizutragen« (233). Damit unterscheidet sich K.s Glaube deutlich von kirchlicher Religiosität, ohne ihr jedoch die Relevanz für diejenigen Menschen abzusprechen, die sie benötigen. – Dem Anhang dieses Buches (243–279) sind zwei von K. so genannte eigene Schlüsseltexte beigegeben, nämlich seine Rezension von Wilhelm Weischedel: Der Gott der Philosophen und aus seinem eigenen Buch Rückkehr ins Eigene das vierte Kapitel: »Docta spes Africana: Grund zur Hoffnung für Afrika?« (266).
K. hat ein sehr ehrliches und offenes Buch über seine eigene Stellung zur Religion und den Entwicklungsstufen dorthin vorgelegt, das für eine theologische Religionsphilosophie eine große Herausforderung darstellt: Lässt sich eine authentische religiöse Erfahrung wirklich derart individuell, ohne Bezug auf eine Evidenz, erfassen? Religionswissenschaftlich wird zudem im Anschluss an K. die Bedeutung des Animismus weiter zu untersuchen sein.