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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

548–550

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Niehoff, Maren R.

Titel/Untertitel:

Jewish Exegesis and Homeric Scholarship in Alexandria.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2011. XIV, 222 S. 22,8 x 15,2 cm. Lw. £ 53,00. ISBN 978-1-107-00072-8.

Rezensent:

Jutta Leonhardt-Balzer

Maren R. Niehoff ist die Erste, die in diesem Buch anhand der alexandrinischen Homerscholien den Zusammenhang der alexandrinisch-jüdischen Toraexegese mit der Auslegung Homers vergleicht. Die Scholien sind bisher weitgehend unbeachtet geblieben. Nun hat eine Kennerin der Arbeiten Philos sich im Detail mit ihnen auseinandergesetzt und die Ergebnisse dieser Arbeit für das alexandrinische Judentum fruchtbar gemacht.
Das Buch beginnt mit einer Einleitung zu dem historischen Hintergrund und den Quellen. Darauf folgen drei Hauptteile mit je drei Kapiteln. Der erste Hauptteil behandelt erste jüdische Reaktionen auf die Auslegung Homers: Der Aristeasbrief stellt einen konservativen Ansatz dar, der den biblischen Text verteidigt und jeglichen kritischen Umgang mit ihm ablehnt. In Demetrius findet N. Verweise auf die Form der Quaestiones aus dem 2. Jh. v. Chr. und rekonstruiert ihre Entwicklung seit Aristoteles. Im exegetischen Ansatz des Aristobulus, der in der Forschung eher im Zusammenhang der Stoiker gesehen wird, sieht sie eher Hinweise auf eine Verbindung zu der aristotelischen Homerexegese in Alexandrien.
Der zweite Hauptteil wendet sich Philos anonymen Kollegen aufgrund von Hinweisen auf drei Themenbereiche in seinen Schriften zu: vergleichende Mythologie, historische Perspektiven auf die Schrift und Spuren von Textkritik.
Im dritten Teil wird dann Philo selbst als Exeget in seinen drei Hauptkorpora (dem allegorischen Kommentar, den Quaestiones und der Exposition) untersucht. Philo tritt als konservativer Exeget hervor, der die literarischen Techniken seiner Zeit zwar kennt, jedoch vorsichtig gebraucht und die Methoden homerischer Exegese kreativ abändert. N. sieht den allegorischen Kommentar als das früheste exegetische Korpus Philos; hier plädiert er gegenüber textorientierten Exegeten für seine allegorische Methode. Gegen­­-über der abwägenden Haltung des allegorischen Kommentars zeigen die Quaestiones eine autoritativere Auslegung, zwar immer noch an eine jüdische, jedoch eine weniger an literarischer Arbeit interessierte Leserschaft gerichtet. Die Exposition richtet sich dagegen nach N. an heidnische Leser und enthält wenig exegetische Detailarbeit.
Das Buch ist eine detailgenaue und materialreiche Untersuchung der fragmentarischen Hinweise auf exegetische Aktivität in Alexandrien. Die Bruchstückhaftigkeit der Quellen ist jedoch auch das Problem. N. lässt sich zu Rekonstruktionen und Schlussfolgerungen hinreißen, die wenig Belegmaterial haben, so ihre Trennung des Exegeten Demetrius nach Euseb und des Historikers Demetrius nach Clemens, ihre Datierung des Exegeten Demetrius in das 2. Jh. v. Chr. aufgrund der von ihr beobachteten Parallelen zu exegetischen Praktiken dieser Zeit (54–55), ihre Schlussfolgerung, dass Philos verstreute Bemerkungen zu anderen Auslegungen des biblischen Textes auf dieselben Kollegen hinweisen (92), wie auch die Vorstellung, dass Ausdrücke wie »wenn jemand sagt …« auf wirklich vorgebrachte Einwände hindeuten müssen (z. B. 148) und nicht auch als literarisches Mittel zur Entwicklung der eigenen Argumentation dienen können. Gänzlich fiktiv ist N.s Rekonstruktion der Motivation und Haltung dieser Kollegen Philos (94) im Blick darauf, dass auch sie zugibt, dass zwar das exegetische Problem, jedoch nicht die genaue Argumentation der Kollegen aus Philos Argumentation hergeleitet werden kann (122). Anfechtbar ist schließlich auch N.s Rekonstruktion der Entwicklung und des Hintergrundes von Philos Werk. So sieht sie ausschließlich literal exegetes als implied audience des allegorischen Kommentars (135). Doch müssen diese literal exegetes nicht nur diejenigen sein, die die Methoden der Homerexegese gebrauchen, sondern können auch Juden sein, die den Text wörtlich und nicht allegorisch verstehen. Auch sind nicht nur diese die implied audience, sondern auch die extremen Allegoriker, die z. B. in Migr 89–92 zu­rechtgewiesen werden. Philo steht zwischen extremen Literalisten und extremen Allegorikern. Somit lassen sich die Unterschiede der Korpora aus Gattung und Leserschaft herleiten, und die von N. beobachtete Entwicklung Philos von einer gemäßigten (allegorischer Kommentar) zu einer zu­versichtlichen (Quaestiones) allegorischen Auslegung (z. B. 155–158) bleibt spekulativ.
Diese Details sind jedoch dem Verdienst der Arbeit N.s in keiner Weise abträglich. Sie betritt Neuland mit ihrer Untersuchung und belegt in präziser Textarbeit, dass jüdische Exegeten in Alexandria die im Museion entwickelten Methoden kannten und nutzten. Dabei gab es lebhafte Kontroversen um den korrekten Gebrauch dieser Methoden wie auch kreative Anpassung derselben. So erarbeitet N. ein Bild der ersten kritischen Arbeiten zum biblischen Text, die über 2000 Jahre vor den modernen exege­tischen Ansätzen liegen. Hier liegt ein Buch vor, mit dem sich nicht nur der an Philo Interessierte, sondern jeder, der sich mit der antiken (jüdischen und griechischen) Exegese beschäftigt, noch lange auseinandersetzen muss.