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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

361–363

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Melzl, Thomas

Titel/Untertitel:

Die Schriftlesung im Gottesdienst. Eine liturgiewissenschaftliche Betrachtung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 535 S. 23,0 x 15,5 cm. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02902-0.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die anzuzeigende Erlanger Dissertation von Thomas Melzl (be­treut von Hanns Kerner) kommt zur rechten Zeit, da sich die Evangelische Kirche in Deutschland zum Jubiläumsjahr 2017 an die Revision der Perikopenordnung macht. M. untersucht in seiner lesenswerten, wenn auch etwas überdimensionierten Arbeit ein zentrales Element des evangelischen Gottesdienstes, das bisher zuungunsten von Predigt und Abendmahl einerseits bzw. der neuen Aufmerksamkeit für das gestaltete Ritual andererseits in den Hintergrund getreten war. Bei M. erhält die Schriftlesung ein eigenständiges Gewicht neben der Predigt und sogar über die Predigt hinaus. Gewisse Sympathien für die in der jüngeren liturgischen Bewegung vertretene Meinung, die Predigt sei im Zu­sam­menhang der schlüssig gestalteten Messliturgie sogar entbehrlich, werden von M. offensichtlich geteilt (vgl. 355 zur Berneuchener »Deutschen Messe« von 1937).
Nach einleitenden Kapiteln enthält das Buch zunächst grundlegende liturgietheoretische Erwägungen zur Schriftlesung. Hier finden sich ein ausführliches medientheoretisches Kapitel IV (53–132), ein Kapitel V über verschiedene gottesdienstliche Grundmodelle (146–233), das in einer Übersicht zusammengefasst wird (Gottesdienst u. a. als Kultus, Wortgeschehen, Fest, Therapie, Zeichengeschehen, Performance, 231 f.), ein Kapitel VI zur Schriftlesung »unter performativen Gesichtspunkten« (235–299) und ein literaturtheoretisches Kapitel VII zur gottesdienstlichen Schriftlesung als »Transtext« (301–339).
Aus der Fülle des damit gebotenen Materials greife ich mit der Kategorie der »Performativität« nur einen theoretisch zentralen Punkt heraus. Auch von M. wird das performative Interpretationsmodell des Gottesdienstes als notwendige Ergänzung des semiotischen verstanden, weil das Letztere einseitig am Verstehen orientiert sei (235). Während die »Semiotik die Wirkung eines Zeichens von der verstandenen Bedeutung abhängig« mache, sei die Theorie des Performativen an der Wirkung einer Handlung interessiert (236). Diese Gegenüberstellung, die sich nach meiner Einsicht nun schon seit längerer Zeit in der Theaterwissenschaft findet und dort prominent von Erika Fischer-Lichte vertreten wird, ist so jedoch irreführend und wird durch die mehrfache Wiederholung nicht richtiger. Sie beruht wohl mehr auf dem Bedürfnis der Kulturwissenschaft, einen neuen »turn« ausrufen zu können, als auf dem Verständnis der Sache. Denn gerade das semiotisch verstandene Zeichen wird ja immer nur im Wirkungszusammenhang von semantischen und pragmatischen Aspekten betrachtet, weil jedes Zeichen überhaupt nur so funktioniert. Wenn das semiotische Modell selbst darum nicht als performativ, sondern lediglich als Summe von – durch die Signifikanten bereits feststehenden – Lesarten aufgefasst würde, handelte es sich um ein grundlegendes Missverständnis. M. ist dafür zu danken, dass diese notwendigen Diskussionen auf dem Hintergrund seiner Arbeit fundierter diskutiert werden können als bisher. Besonders hilfreich ist in diesem Kapitel übrigens auch die Beschreibung der Schriftlesung als »Lautung« (285–291), wo drei performative Modelle des Lesens entwi-ckelt und diskutiert werden. Dieser Abschnitt endet mit der schönen Formel, dass man dem Text gerade dadurch gerecht wird, indem man dem Hörer gerecht wird, »weil der Sinn des Textes darin besteht, zu Gehör gebracht zu werden.« (291)
Als das zentrale Kapitel des Buches kann das abschließende VIII. angesehen werden, in dem die dramaturgische und theologische Bedeutung der Lesungen anhand der Stellung und Funktion im liturgischen Syntagma nach verschiedenen Agenden ausführlich beschrieben wird: »Das liturgische Element der Lesung von Agende I bis zum Gottesdienstbuch« (341–469). Die Überschrift zeigt nicht, dass hier noch wesentlich mehr zu lesen ist, denn als »Vorgeschichte« (341–369) werden in diesem Kapitel die ältere und neuere liturgische Bewegung (neben Berneuchen auch Alpirsbach und die »Liturgische Konferenz Niedersachsens«) und ihre liturgische Lesepraxis ausführlich geschildert. Danach werden auch die »Gottesdienste in neuer Gestalt« eingehend gewürdigt (379–411), so dass die Gestaltungsoffenheit des »Ev. Gottesdienstbuches« (EGb) von 1999 erneut klar ans Licht tritt.
Das EGb wird von M. hinsichtlich seiner theologischen Unklarheit kritisiert und mit dem Satz charakterisiert, hier hätten sich »die Grundsätze einer erneuerten kulturprotestantischen Theologie durchgesetzt, wie sie von Julius Smend und Friedrich Spitta für den Gottesdienst formuliert worden ist.« (465). Man wird der Kritik an der etwas nebulösen Gottesdiensttheologie des EGb, die be­kanntlich auf einem 25 Jahre dauernden kirchlichen Konsensfindungsprozess beruht, zustimmen können; aber diese Unklarheit nun ihrerseits als »kulturprotestantisch« profiliert anzusehen, dürfte doch ein überzogenes Urteil sein. Die zusammenfassende Gegenüberstellung, dass der Gottesdienst nach Agende I als »personale Begegnung mit dem dreieinen Gott aufgefasst« und nach dem EGb »in erster Linie der Glaube dargestellt« werde (466), projiziert eine zugespitzte Lesart von Schleiermachers Gottesdienstverständnis und desjenigen der Wort-Gottes-Theologie auf die beiden Agendenentwürfe. Die Aussage, einmal finde »in den Schriftlesungen eine Begegnung mit Gott statt, im zweiten Fall eine Begegnung mit einem Text, der vom Glauben an diesen Gott zeugt« (ebd.), sieht etwas Richtiges, verfehlt aber in der Gegenüberstellung den entscheidenden Punkt: dass es hier nie und nimmer um eine Alternative gehen darf! Der Fortschritt gegenüber der Zeit agendarischer Konsolidierung (bzw. »Restauration«) um 1955 und dem EGb liegt ja gerade darin, dass die hermeneutisch unvermittelte Rede vom »Wort Gottes« spätestens seit 1970 als Problem empfunden wird, ohne dass man jedoch dem Fehlschluss erliegen dürfte, jene Kategorie sei entbehrlich und substituierbar durch Kategorien wie Erlebnis, Erfahrung, Spiritualität oder religiöse Evidenz. Treffend erinnert M. daran, »dass die Heilige Schrift nicht außerhalb ihres Gebrauches Gottes Wort ›ist‹, sondern immer nur in ihrem Gebrauch dazu wird« (478). Doch dieser Gebrauch ist ja nie das bloße Lesen, sondern der in, mit und durch dieses Lesen eingeleitete Verstehensprozess. Das gottesdienstliche Lesen und Predigen hat diesem Verstehen zu dienen, so dass weder der redundante Exzess (etwa durch das Einschnüren der Texte in thematisch fokussierten Liturgien) noch die bloße liturgische Parataxe, die das Verstehen durch das kryptische Nebeneinander verschiedener Reihenelemente unnötig erschwert, der Weisheit letzter Schluss sein kann. Zum Glück hat sich der Meinungsbildungsprozess zu den Perikopen innerhalb der EKD ja inzwischen auch von entsprechenden Modellen wie dem »Revised Common Lectionary (RCL)«, denen M. eine gewisse Sympathie entgegenbringt (471–474), deutlich entfernt.
Auf jeden Fall wird man urteilen können, dass das vorliegende Buch eine große Hilfe beim Meinungsbildungsprozess auf dem Weg zur neuen Perikopenordnung darstellt und dazu die nötigen historischen, ästhetischen und liturgietheologischen Grundinformationen auf dem neuesten Diskussionsstand bereithält – es sind sogar noch Literaturtitel aus dem Jahre 2011 verarbeitet. Ein übersichtlich gestaltetes Literaturverzeichnis und ein Register erschließen den reichen Stoff – und der Rezensent fügt mit Freuden hinzu, dass der Band hervorragend lektoriert und fehlerkorrigiert ist.