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Ausgabe:

März/2012

Spalte:

294–297

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Chilton, Bruce, Bock, Darrell, Gurtner, Daniel M., Neusner, Jacob, Schiffman, Lawrence H., and Daniel Oden[Eds.]

Titel/Untertitel:

A Comparative Handbook to the Gospel of Mark. Com­-par­isons with Pseudepigrapha, the Qumram Scrolls, and Rab­-binic Literature.

Verlag:

Leiden/Boston: Brill 2010. XII, 596 S. 24,9 x 17,3 cm = The New Testament Gospels in their Judaic Contexts, 1. Geb. EUR 167,00. ISBN 978-90-04-17973-8.

Rezensent:

Reinhard von Bendemann

Bruce Chilton, Bernard Iddings Bell Professor of Religion am Bard College in Annandale-on-Hudson (New York), konzipiert mit dem ersten Band der neuen Reihe The New Testament Gospels in their Judaic Contexts ein Handbuch für Forscherinnen und Forscher, die das zweite Evangelium kommentieren (XII; lediglich der Klappen­-text des Buches reklamiert, dass darüber hinaus auch ein weiterer Leserkreis angezielt wird).
Im Kern beschränkt sich das Wörterbuch auf eine Präsentation von traditionsgeschichtlichem Vergleichsmaterial zu den Markus­texten. Entsprechend den Forschungsschwerpunkten des Hauptherausgebers C. (es wird nicht deutlich, an welcher Stelle die anderen Herausgeber Inhalte beigesteuert haben) steht dabei das frühe Judentum im Fokus. Zusammengestellt sind Belege aus den Apokryphen und Pseudepigraphen, den Qumran-Schriften und der rabbinischen Literatur. Dies geschieht, ausgehend von einer Übersetzung des zweiten Evangeliums in der Textgestalt des Codex Vaticanus, durchgängig in englischer Übersetzung.
Das Vorwort (VII–XII) thematisiert in Kürze das methodische Vorgehen. Beim traditionsgeschichtlichen Vergleichen möchte C. »simple analogies« von »topical analogies«, »interpretative analogies« und »close analogies« unterscheiden.
In Anbetracht der Auskunft, dass sich das Buch an Kommentatoren des zweiten Evangeliums richtet, überrascht es, dass die Einleitung (»Introduction«; 1–60) zunächst Grundwissen zu den einzelnen frühjüdischen Schriftenkreisen (Übersicht über die Qumrantexte, die Gliederung der Mischna, der Talmudim und Targume etc.) zusammenfasst. Zugleich steckt C. hier den Rahmen für die zu vergleichenden Texte ab. Sie sollen nach seiner Zielsetzung »exclusively Jewish« und nicht jünger als die synoptischen Evangelien sein (2). Was C. für die Qumranschriften ausführt, gilt methodisch für die Arbeit insgesamt: Es soll nicht um Texte gehen, die in einer unmittelbaren bzw. genealogischen Abhängigkeit stehen, sondern um den Aufweis möglicher Konvergenzen und Differenzen inner halb eines weiteren kulturellen Kontextes des Judentums in der Zeit des Zweiten Tempels. Dieses behandelt C. insgesamt als eine recht kompakte Größe; zwischen den einzelnen frühjüdischen Schriftenkreisen wird eine starke inhaltliche Homogenität er­kannt. Dies gilt insbesondere auch für den biblischen Kanon. C. rechnet mit einem stabilen und schon recht weitgehend standardisierten protomasoretischen Text, der zur Zeit des Zweiten Tempels bereits dominiert habe und auch den biblischen Schriften aus Qumran zugrunde liege. C. geht von einer starken Kontinuität zwischen pharisäischem und rabbinischem Judentum aus. Dagegen wird eine enge Verbindung der Qumranschriften mit sadduzäischer Theologie postuliert (vgl. 20.378 u. a.).
Ein Hauptanliegen C.s besteht in dem Bemühen um eine differenzierte Wahrnehmung der verschiedenen Facetten des Aramäischen im 1. Jh. Trotz der begrenzten Quellenlage und der zahlreichen methodischen Probleme ist C. sehr optimistisch im Blick auf die Möglichkeit der Rückübersetzung von Herrenworten in ein zeitgenössisches Aramäisch. Eine Brücke sollen die Targumim bilden. Jesus sei teils von einem »specifically Targumic understanding of the Bible« beeinflusst worden (46). C. geht anders als Maurice Casey zwar nicht davon aus, dass das griechische Markusevangelium eine direkte Übersetzung aus dem Aramäischen darstelle, rechnet aber gleichwohl mit einer aramäischen Grundierung zumindest der Jesusworte, die im Kommentarteil sämtlich ins Aramäische zurückübertragen werden. Bei diesen (hypothetischen) Rückübertragungen werden die Texte in Umschrift von C. mit (hypothetischen) Vokalen versehen und punktiert. Als Beispiel für das Verfahren dient in der Einleitung nicht ein markinischer Text, sondern vielmehr das Vaterunser (52–59).
Der Hauptteil (»According to Mark«; 61–525) bietet in der Sequenz des zweiten Evangeliums bis einschließlich Mk 16,1–8 die von C. ausgewählten frühjüdischen Vergleichstexte. Er setzt den versierten Kommentator als Nutzer voraus, insofern z. B. keinerlei Begründung für die Abgrenzung der einzelnen markinischen Teiltexte gegeben wird. Diese werden in längeren oder kürzeren Einheiten (Kriterien werden nicht genannt) fortlaufend in Gestalt einer englischen Übersetzung abgedruckt. Auf die Übersetzung folgt je eine Auflistung der Vergleichstexte in englischer Übersetzung – auch hier sind Abgrenzung und Anordnung nicht näher begründet –, beginnend bei einer Nennung möglicher alttestamentlicher Referenztexte (in Fettdruck). Am Ende einer jeweiligen Einheit stehen Kommentarabschnitte, in denen erste Ansatzpunkte eines möglichen Vergleichs – um mehr handelt es sich in der Regel nicht – skizziert werden. Ein gutes Beispiel für das Verfahren bietet der Abschnitt zu Mk 14,12–25, in dem die wichtigsten frühjüdischen Texte zum Passa in Übersetzung zusammengestellt sind (438–469). – In die Kommentarpassagen eingebettet sind durchgängig C.s Versuche, die im Text enthaltenen Herrenworte in eine hypothetische Gestalt des Aramäischen zurückzuübertragen.
Am Ende des Buches finden sich vier thematische Appendices (527–572); der erste Appendix benennt Grundinformationen zu den sieben Middot des Hillel (»Rabbinic Rules of Interpretation«), der zweite Anhang ist ein (allerdings im Buch als solcher nicht kenntlich gemachter) Abdruck eines Aufsatzes von C. von 1985 zum Menschensohn (erschienen in: JSOT 1985, 155–175). Zwei kurze Anhänge befassen sich mit dem Rabbi-Titel und Informationen über die zeitgenössischen Synagogen. Das Werk wird durch ein Quellen- und Autorenverzeichnis abgerundet (573–596). Die von C. zu den einzelnen Abschnitten verzeichneten Quellenausgaben und Forschungsbeiträge blenden die jüngere deutschsprachige Forschung weitgehend aus.
Der von C. avisierte Nutzer kann dieses Handbuch mit Gewinn konsultieren. Dies gilt insbesondere im Blick auf die von C. zusammengestellten Texte aus Qumran und den Targumim. Die besondere jüdische Gestalt des zweiten Evangeliums, das keineswegs einfachhin als der »heidenchristliche« Text gelten kann, als den es die ältere deutschsprachige Forschung jahrzehntelang re­klamiert hat, gibt nach wie vor viele Fragen und Probleme auf (man vergleiche nur Mk 7,3 f.). Diese Probleme werden sich nicht lösen lassen, wenn man sie unabhängig von der besonderen Sprache des zweiten Evangeliums angeht – wie zumeist in der jüngsten Forschung. In der Summe bietet C.s Werk hier ein wichtiges Instrument, ältere Sichtweisen zu überwinden und dem zweiten Evangelium in seiner Verortung im Kontext des Frühjudentums auf die Spur zu kommen.
Allerdings wird die Nutzung dieses Handbuches in verschiedener Hinsicht deutlich beschwert, die Rede von einem »powerful tool« kann der Rezensent sich aus verschiedenen Gründen nicht zu eigen machen.
Zunächst müsste C.s »fresh translation« des Vaticanus-Textes des Markus ausführlicher diskutiert werden, die auf jede textkri­-tische Diskussion und Einbeziehung anderer Textzeugen verzichtet und, angefangen bei Einzelbegriffen und Namen (Johannes gilt nicht als »baptist«, sondern als »immerser«; der Name Petrus wird durchgängig mit »Rock« übertragen, statt »apostle« ist von »agent« die Rede etc.), teils recht ungewöhnlich ausfällt. Fragen kann man grundsätzlich, warum gerade der Vaticanus als christliche Handschrift die Basis für eine frühjüdische Kontextualisierung des Mk liefern soll.
Da sich das Buch an Fachleute wendet, ist die Gefahr des Missverständnisses, es gebe keine weiteren Vergleichstexte als die abgedruckten, nicht gegeben. Dennoch muss konstatiert werden, dass die Textauswahl vielfach lückenhaft und einseitig bleibt. C. sieht selbst die Grenzen seines Unternehmens deutlich (»without any claim that this breakdown of passages represents the intention of the Gospel at any level«; VII). Wie kurz z. B. das apokalyptische Judentum kommt, macht allein schon ein vergleichender Blick in das traditionsgeschichtliche Material deutlich, welches Adela Yabro Collins in ihrem Markus­kommentar bietet. In Hinsicht auf die Rabbinica hat selbst der von C. sicher mit guten Gründen kritisierte (vgl. VIII u. a.) Billerbeck oft engere und aussagekräftigere Belegstellen. Das hellenistische Judentum steht nicht im Fokus; gleichwohl wird häufig und ausführlich auf Josephus-Texte zurückgegriffen; dagegen werden insbesondere Philotexte weitgehend zurückgestellt (vgl. 4 f.; in der Sache positiver: 568). Eine Begründung solcher Differenzierung in der Gewichtung ist nicht immer erkennbar.
Die kommentierenden Abschnitte bieten eine Fundgrube für den Kommentator. Sie sind allerdings in der Regel zu kurz, besonders dort, wo es um ganz ungewöhnliche Verknüpfungen des markinischen Textes mit jüdischen Vorstellungen geht (z. B. 263 zum Wort vom Kreuztragen und der jüdischen Auslegung von Gen 22; nach C. wären Jesu Mahlzeiten als »mimetisches Surrogat« der jüdischen Opferpraxis zu verstehen [467] etc.). Für C. ist der markinische Jesus selbstverständlich ein Rabbi (vgl. 463 u. a.). Die Auskunft, der Titel »Rabbi« sei in den Evangelien die bevorzugte Anrede für Jesus (»more than by any other designation«; »numerical preponderance«; 561), gibt allerdings den Konkordanzbefund keineswegs zutreffend wider. Zudem wäre für die vier einzig vorhandenen markinischen Belegstellen (sofern man nicht die griechischen didask-Derivate einbezieht; hier besteht jedoch ein Unterschied) zu bedenken, dass sie vom Erzähler mindestens zum Teil derart markiert sind, dass sie ein vollgültiges Verständnis Jesu kaum zur Geltung bringen. In Mk 9,5 steht die Rabbi-Anrede in einer ambivalenten Aussage des Petrus; Mk 14,45 ist Anrede durch Judas (in Mk 10,51 spricht ein Blinder, der zu heilen ist; vgl. Mk 11,21 Petrus).
Trotz der einleitenden Ausführungen zur hebräischen und aramäischen Sprachgeschichte gelingt eine Verzahnung mit den jeweiligen Rückübersetzungsversuchen markinischer Jesusworte im Corpus des Buches nur bedingt. Diese hängen vielfach begründungslos in der Luft. So fragt man sich – um nur zwei Beispiele unter zahlreichen herauszugreifen –, warum Mk 8,24c im Aramäischen kausal aufgefasst werden soll (258) oder in Mk 16,8 im Aramäischen vom »Grab« und nicht vom »Ort« die Rede gewesen sein soll, wo man Jesus nach dem Bericht des Jünglings abgelegt hat (524).
Entgegen der eigentlichen Intention des Buches werden vielfach auch überlieferungskritische und quellenkritische Fragen behandelt. Der Grad von Hypothesenfreudigkeit in diesen Abschnitten ist beträchtlich. So rechnet C., u. a. mit Verweis auf Gal 1,18, mit einem Fundus frühester Petrus-Katechese, welche in Mk eingegangen sei (vgl. 270 f.; vgl. 553); der Davidsohntitel sei vor allem in Jakobuskreisen gepflegt worden (326). – Woher soll man dies wissen? C. geht ferner, ohne weitere Begründung und Erläuterung, von einer Barnabas-Quelle aus (z. B. 148 zur Jüngerliste in Mk 3,3–19; 210 zu Mk 6,1–13; 303 zu Mk 10,13–16 u. a.). Die Kriterien der Gewinnung und Entdeckung solcher Quellen bleiben im Dunkeln oder stehen auf tönernen Füßen, wenn z. B. das Thema Exorzismen von C. mit der Erfahrung der Maria nach Lk 8,2 verbunden und von hier aus auf eine Maria Magdalena-Quelle (»Magdalene source«) geschlossen wird (258.278 – nota bene: zu Mk 9,14–29, wo die Mutter Jesu bei Mk nicht vorkommt).
Insgesamt nimmt man mit Erstaunen zur Kenntnis, dass in diesem Handbuch die alte Diastase von Judentum und Hellenismus, die in den vergangenen Jahrzehnten in der neutestamentlichen Wissenschaft überwunden wurde, wieder auflebt. Die Arbeit des »Jesus Seminar« bezeichnet C. z. B. als »philo-Hellenic« (resp. »pan-Hel­len­ism«) und rückt solchen Philohellenismus in die Nähe zum Fundamentalismus (49 f.; vgl. 554). Platons Entwurf vom Staat gilt als »fully realized in Fascism« etc. Hier bleiben bei diesem im Ansatz verdienstvollen Handbuch gravierende Fragen offen.