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Ausgabe:

Februar/2012

Spalte:

205–207

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Arndt, Andreas, u. Kurt-Victor Selge [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Schleiermacher – Denker für die Zukunft des Christentums?

Verlag:

Berlin/New York: de Gruyter 2011. V, 135 S. 23,0 x 15,5 cm. Kart. EUR 19,95. ISBN 978-3-11-024046-7.

Rezensent:

Markus Buntfuß

»Das Vorrecht sich die Zukunft vorzustellen und – wenn auch nur mit unsichern Augen – hineinzusehen gehört unter diejenigen, deren sich die Menschen mit der wenigsten Mäßigung bedienen.« Mit dem ersten Satz der ersten Predigt im ersten Band seiner von ihm selbst herausgegebenen Predigten warnt Schleiermacher am Neujahrstag 1797 vor der beliebten »Beschäftigung mit der Zu­kunft«, die den Zeitgenossen »den gegenwärtigen Augenblick« raubt. Man wird deshalb nicht fehlgehen, wenn man den johanneischen Theologen Schleiermacher der Tendenz nach nicht so sehr als prophetischen Künder eines zukünftigen Christentums, sondern als wachen Zeitgenossen einer gegenwärtigen Gestalt der christlichen Religion charakterisiert. Gleichwohl hat die neuere Zuwendung zu seinem Denken seit den 80er Jahren des vorigen Jh.s nicht nur deren zeitdiagnostische Kraft herausgearbeitet, sondern immer auch die Frage nach dem unausgeschöpften und visionären Potential seines theologischen Programms aufgeworfen. Um Antworten auf diese Frage bemühen sich die Beiträge der anzuzeigenden Aufsatzsammlung. Ihre Entstehung geht auf ein Symposion zurück, das die Berliner Schleiermacher-Forschungsstelle im Jahr 2009 zur Verabschiedung ihres langjährigen und hochverdienten Leiters Kurt-Victor Selge ausgerichtet hat.
Der schmale Band bietet nach einem Vorwort von Wilhelm Vosskamp und einem Tagungsbericht von Simon Gerber einige Überlegungen von Hans-Peter Großhans zu Gottesverhältnis und Freiheitsgefühl in Schleiermachers Theologie, wonach Schleiermacher auf der Schwelle zwischen Neuzeit und Moderne steht. Er müsse sich deshalb die kritische Rückfrage gefallen lassen, ob bei ihm »nicht schon zumindest angelegt ist, was dann ein Grundzug postmodernen Denkens geworden ist: die regressive Hinnahme gegebener Traditionen, Kulturen oder Kontexte« (29). Für Großhans zeichnet sich bei Schleiermacher eine bedenkliche Entwick­lung »zuguns­ ten kontextuell geprägter Theologien« (ebd.) ab, derzufolge aus einem entleerten Gottesbezug keine Wahrheitsansprüche mehr abgeleitet werden können. Die Folgen seien die »vielfältigen Formen der ästhetisierenden (Re)Inszenierung des Heiligen« (30), im Gegensatz zu »sachlichen Argumenten« (ebd.) und religiösen Überzeugungen. Diese an Papst Benedikts XVI. Protestantismuskritik erinnernden Auslassungen, wonach man in Schleiermachers anthropologischer Religionstheologie weder ein Bollwerk gegen den (post)-­ modernen Relativismus noch eine dogmatische Abwehrstrategie gegen die neuzeitliche Ästhetisierung der Religion findet, wirft freilich eher ein Licht auf das gegenläufige Theologieverständnis des Autors als auf Schleiermachers Beitrag für eine gegenwartstaugliche bzw. zukunftsfähige Theologie.
Sehr viel ertragreicher in der Sache nimmt sich dagegen die souveräne Würdigung von Schleiermachers kirchengeschichtlichem Rang durch Martin Ohst aus, der dessen Bedeutung für eine nach wie vor aktuelle Auslegung des christlichen Lebensideals und Kirchenbegriffs auf die prägnante Formel bringt: »Protestantisch-christliches Leben und Denken in der nachkonfessionellen bürgerlichen Gesellschaft« (57). Die Entfaltung dieser begrifflichen Verdichtung von Schleiermachers Verständnis eines zeitgenössischen Christentums in den Kontexten von Gesellschaft und Kultur sei allen Studierenden und Interessierten wärmstens zur Lektüre empfohlen.
Weniger nach der Zukunft von Schleiermachers Philosophie als nach der Dimension der Zukunft in Schleiermachers Philosophie fragt Andreas Arndt und kommt zu dem Ergebnis, dass Schleiermacher die Überzeugung von einem telos der Geschichte als einer alle Gegensätze vermittelnden Welttotalität vertritt. Im Unterschied zu den Systementwürfen von Herder (den Arndt nicht nennt) und Hegel werde bei Schleiermacher das Transzendentale jedoch nicht historisiert, sondern die Geschichte ihrerseits zum Transzendental erhoben. Schleiermacher blende dabei den historischen Erfahrungskontext seiner Geschichtsdeutung als einem unendlichen Progress gerade aus. Die systematische Aktualität seiner Philosophie könne deshalb nicht anders als auf dem Weg einer Selbstanwendung seiner Einsicht in die historische Verfasstheit jeder Philosophie erhoben werden.
Arnulf von Scheliha ergänzt das Panorama durch eine gelehrte und umfassende Zusammenstellung von Schleiermachers politischem Denken, die sich weniger durch eine markante These als durch eine grundsolide Darstellung sowie Abgewogenheit im Urteil auszeichnet.
Zuletzt beschließt der geehrte Kurt-Victor Selge den Reigen der Beiträge um zwei Aufsätze, deren erster sich aufgrund seiner rhapsodischen Form kaum referieren lässt, während der zweite eine überarbeitete Fassung eines bereits veröffentlichten Textes darstellt, in dem Selge die Wirkungsgeschichte Schleiermachers in der Kirchengeschichtsschreibung von August Neander aufspürt. Demnach habe Neander »Schleiermachers Wissenschaftsanschauung … so mit dem Schleiermacher an sich fremdartigen, aber doch von ihm auch erstrebten Geist der Erweckung verbunden, dass seine Wissenschaft der Erweckung dienstbar, der Geist der Er- weckung aber zugleich an die kritische Wissenschaft gebunden wurde« (104).
Vielleicht lässt sich das Resultat der angezeigten Vorträge am besten mit einem älteren Versuch der Würdigung von Schleiermachers Denken für die Zukunft des Christentums zusammenfassen. Daniel Schenkel erkannte 1868 Schleiermachers »Bedeutung für Gegenwart und Zukunft« in seinem Lebens- und Charakterbild Schleiermachers zu dessen 100. Geburtstag darin, dass es ihm ge­lungen sei, »das in das Schweißtuch vielfach unverständlich gewordener Dogmen und Formen begrabene Christenthum von jahrhundertelangem Scheintode wieder zu erwecken, und seinen le­bendigen Geist in die ihm erst noch aufzuschließenden Kanäle der modernen Bildung zu leiten«. Die bleibende Bedeutung eines theo­logischen Programms im Anschluss an Friedrich Schleiermacher bestünde demnach in der immer wieder aktuellen und damit unabschließbaren Aufgabe, die Überzeugungsweisen und Erscheinungsformen des geschichtlich überlieferten Christentums im Medium moderner Geistesbildung zur Sprache und zur Geltung zu bringen.