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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

62–65

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Hamm, Berndt

Titel/Untertitel:

Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen. Hrsg. v. R. Friedrich u. W. Simon.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. IX, 620 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 54. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-150663-5.

Rezensent:

Martin Ohst

Im Jahre 1977 erschien Berndt Hamms Dissertation »Promissio, Pactum, Ordinatio« im Druck – seither ein Standardwerk, das für die besten Traditionen und Standards deutscher protestantischer Theologiegeschichtsschreibung steht. Im selben Jahr publizierte H. seinen Aufsatz »Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschichtlicher Forschung« (hier 86–115), in dem er als Theologie­his­toriker sein Arbeitsfeld noch einmal neu zuschnitt: Er richtete sein Augenmerk einmal mit Bedacht auf die Verwurzelung aller theologischen Theoriebildung in der gelebten religiösen Überzeugung, also in der Frömmigkeit, und er wies zum andern auf eine in sich noch einmal unübersehbar vielgestaltige Formation spätmit­telalterlicher/frühneuzeitlicher Theologie hin, in der diese Ab­kunft der Theoriebildung besonders präsent ist und die sich dann auch der Pflege und der Förderung der gelebten Frömmigkeit inhaltlich wie methodisch in besonderer Weise verpflichtet wusste. Für diesen Typus der Theoriebildung prägte er den Terminus »Frömmigkeitstheologie«, und er sieht in diesem Theorietypus auch über die Diskontinuität (den »Systembruch«, wie H. später formulierte) hinweg das vorreformatorisches (Paltz, Staupitz) und reformatorisches (Luther) Denken verbindende genus commune. 22 Jahre später hat H. die Thesen dieses frühen Aufsatzes noch einmal neu ausformuliert und sich mit Kritikern verständigt – schon damals hatte sich sein Forschungsansatz eindrucksvoll bewährt, und die von ihm geschaffene Terminologie war zur gängigen Münze geworden (»Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14.–16. Jahrhundert«, 116–153).
Bald nach seiner Habilitation mit einer Monographie über den Frömmigkeitstheologen Johannes von Paltz (1982) fand H. dann in Erlangen seine dauerhafte Wirkungsstätte, also dort, wo schon Werner Elert auf seine Weise dem Ursprung von Theologie in gelebter Frömmigkeit nachgespürt hatte. Hier regte er Schülerinnen und Schüler an, und ins Weite gehend fand er Kollegen und Freunde, die er großzügig und freundlich zum Mitdenken und Mitarbeiten einlud. Indes schritt und schreitet er selbst rastlos for t– nicht nur in der Lutherforschung, in der Profilierung der städtischen Reformation (Nürnberg, Zürich) und in der Kirchlichen Zeitgeschichte, sondern auch in der Mediävistik. Dem Begriff der »Frömmigkeitstheologie« stellte er seit den frühen 90er Jahren den der »normativen Zentrierung« an die Seite, der wiederum Tendenzen bezeichnen und deuten will, die H. auf je verschiedene Weise in der vorreformatorischen und reformatorischen Frömmigkeits­theologie gemeinsam walten sieht. Im Bestreben nach zuverlässiger, d. h. weltliches Leben konstruktiv formender und zum ewigen Heil führender religiös-sittlicher Orientierung wurden allenthalben religiöse Vorstellungen und Praktiken er­probt, auf ihre Tragfähigkeit und Valenz hin geprüft und entsprechend in ihrer Wertigkeit gegeneinander abgestuft – mal konservativ-integrativ (»Gradualismus«), mal kritisch-exklusiv (»Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie«, 3–40).
Seine kategorialen Leitbegriffe hat H. auf überzeugende Weise sehr genau und immer wieder neu durchreflektiert. Aber den entscheidenden Beweis auf ihre Tauglichkeit erbringt bei historischen Deutebegriffen doch nicht schon ihre innere Konsistenz, sondern erst ihre Erschließungskraft, und die führt H. in seinen Aufsätzen eindrucksvoll vor: Er ist ein Meister im Suchen, Finden, Erschließen, Analysieren und Präsentieren von Quellen, nämlich Texten wie Bildern aller Art. Er tut das mit ansteckender Freude und lässt so Gesamtpanoramen entstehen, die sowohl durch Detailreichtum als auch durch ihre virtuose Komposition überzeugen: Besonders eindrücklich zeigt sich das in seiner Darstellung von Theologie und Frömmigkeit im (heutigen) Bayern des ausgehenden Mittelalters (244–298).
In ihrer Konzentration auf einen bestimmten Raum hiermit verwandt ist die kleine Monographie »Hieronymus-Begeisterung und Augustinismus vor der Reformation. Beobachtungen zur Beziehung zwischen Humanismus und Frömmigkeitstheologien (am Beispiel Nürnbergs)«: Im vergleichsweise kleinen Raum der fränkischen Reichsstadt zeigt H. an einem überschaubaren Kreis vielfach miteinander vernetzter Personen, wie die beiden als Heilige verehrten spätantiken Theologen zu Symbolgestalten un­terschiedlicher Muster frommer Selbstdeutung wurden. An Hieronymus orientierte sich ein seiner Kräfte und Möglichkeiten gewisses, bildungsstolzes und asketisch gestimmtes Tugendstreben stadtbürgerlicher Provenienz; Augustin, als dessen überzeugender Fürsprecher Luthers Lehrer Staupitz wirkte, stand für die Einsicht in die Vorläufigkeit und Begrenztheit alles dessen sub specie Dei (154–243). Dieselbe Spannweite spätmittelalterlicher Einschätzungen menschlicher Möglichkeiten misst auch H.s Triptychon spätmit­telalterlicher Prediger aus (»Zwischen Strenge und Barmherzigkeit: Drei Typen städtischer Reformpredigt vor der Re­formation: Savonarola – Geiler – Staupitz« [425–445]).
Seine Hinwendung zur Frömmigkeit(stheologie) schärfte von Anfang an die Aufmerksamkeit des Theologiehistorikers H. für Menschen in ihrer subjektiven Befindlichkeit: Theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Formationen erschließt H. sich mit Vorzug im Medium der Zeugnisse menschlicher Befürchtungen und Begehrungen. Dafür steht beispielhaft mit ihren vielen Einzeleinsichten und Durchblicken seine Studie »›Gott berühren‹: Mystische Erfahrung im ausgehenden Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Klärung des Mystikbegriffs« (449–473). Aus dieser Perspektive erschließt sich H. so auch die Welt der institutionalisierten Religion im späten Mittelalter: Es ist bezeichnend, dass gleich hinter dem zuletzt genannten Aufsatz die Studie »Die Nähe des Heiligen im ausgehenden Mittelalter: Ars moriendi, Totenmemoria, Gregorsmesse« steht (474–509). Und das Bußwesen, in dem einander mit struktureller Notwendigkeit individuelle Disposition bzw. subjektives Bedürfnis und objektive Normengefüge begegnen, schildert er aus der Perspektive des Menschen, den die Einsicht in die faktische Verfehltheit der eigenen Existenz der Grenzen seiner Fähigkeiten innewerden lässt und dem Sakrament und Seelsorge dabei helfen, mit und trotz dieser Einsicht sein Leben zu bewältigen (»Wollen und Nicht-Können als Thema der spätmittelalterlichen Bußseelsorge«, 355–390).
Zu den Mitteln, mit welchen (spät)mittelalterliche Menschen die Gefährdung ihrer Sünderexistenzen zu bewältigen trachteten, gehörte auch materieller Besitz, Geld. Die besondere Erschließungskraft von H.s theologiegeschichtlich fundierter und verstehender Frömmigkeitsgeschichtsschreibung erweist sich darin, dass er auch die hieraus entspringenden Phänomene einer förmlichen Merkantilisierung der gelebten Religion unbefangen und ohne jedes anachronistische Ressentiment gemäß dem ihr innewohnenden eigenen Sinngefälle zu analysieren vermag (»Den Himmel kaufen. Heilskommerzielle Perspektiven des 14. bis 16. Jahrhunderts« [301–334], »›Zeitliche Güter gegen himmlische eintauschen‹. Vom Sinn spätmittelalterlicher Stiftungen« [335–352]).
Da die Aufsatzsammlung lediglich eine Zwischenbilanz von H.s Arbeiten auf diesem Felde darstellt, wird es statthaft sein, Fragen zu stellen. – Albrecht Ritschl hat einst darauf hingewiesen, dass Leerstellen bleiben, wenn man sich darauf kapriziert, frömmigkeits- und theologiegeschichtliche Formationen überwiegend als »Product einer eigenthümlichen subjectiven Geistesrichtung … zur Anschauung [zu] bringen« (Ges. Aufs. NF, Freiburg/Leipzig 1896, 26). H.s Spätmittelalter-Bild wirft so zum einen die Frage nach der leitenden Anschauung von Gott und seinem Willen auf. Zum an­dern lädt sie dazu ein, das Bild der Kirche genauer ins Auge zu fassen, das in den unterschiedlichen Arten spätmittelalterlicher Fröm­migkeitstheologie waltet: Die Kirche ist es ja, in die Gottes forderndes und gnädiges Sich-Wenden nach außen gleichsam einfließt und von der aus es dann in der unübersehbaren Vielgestalt der sakramentalen, bildhaften und wortgebundenen Vergegenständlichungen auf den einzelnen Menschen trifft. Für diese Fragestellungen sind theologische oder ekklesiologische Traktate si­cher nicht die einzigen oder auch nur die erstrangigen Quellen; vielmehr gilt es zu eruieren, welche Gottes- und Kirchenbegriffe in spezifisch frömmigkeitstheologischen Texten etwa zur Messe und ihren Früchten oder zur subjektiv-innerlichen und zur sakramentalen Buße, wenn auch vielleicht nur unterschwellig, bestimmend sind.
Abschließend ist den Herausgebern dafür zu danken, dass sie aus Anlass seiner Emeritierung mit diesem liebevoll und sorgfältig redigierten Band diesen Ausschnitt aus dem bisherigen Lebenswerk ihres Lehrers exemplarisch gebündelt und leichter zugänglich gemacht haben. – Warum sie allerdings statt des schönen, von H. benutzten und mehrfach luzide definierten Begriffs der Frömmigkeit (z. B. 247: »aneignende[r] Vollzug von Religion durch eine formgebende Gestaltung des Lebens«) die blasse, vieldeutige Chiffre »Religiosität« für den Titel gewählt haben, ist mir unerfindlich geblieben.