Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

41–45

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Oegema, Gerbern S.

Titel/Untertitel:

Der Gesalbte und sein Volk. Untersuchungen zum Konzeptualisierungsprozeß der messianischen Erwartungen von den Makkabäern bis Bar Koziba.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. 351 S. gr. 8o = Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum, 2. ISBN 3-525-54201-1

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Der Vf. legt hier seine judaistische Dissertation von 1989/90 an der FU Berlin bei P. Schäfer vor. Er hat sich vorgenommen, "eine... Geschichte der messianischen Auslegungen, Erwartungen und Bewegungen der hellenistisch-römischen Periode zu schreiben" (31). Zu diesem Ziel analysiert er alle messianischen Stellen der Literatur der hellenistisch-römischen Epoche von der vormakkabäischen über die hasmonäische, herodianische, römische bis in die frühchristliche und frührabbinische Zeit. Die Schriften des Neuen Testaments werden gleichrangig in die jeweils untersuchten, zeitlich abgegrenzten Quellenbereiche eingeordnet.

Sekundärliteratur aus diesem gegenwärtig sehr produktiven Forschungsgebiet ist im Literaturverzeichnis punktuell bis 1993 nachgetragen, aber nur noch sporadisch in die Darstellung einbezogen worden (vor allem der von J. H. Charlesworth hg. Sammelband "The Messiah", Minneapolis 1992). Zu ergänzen wäre jetzt noch: I. Gruenwald u.a. (Hgg.), Messiah and Christos (FS Flusser), Tübingen 1992; H. Seebaß, Herrscherverheißungen im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 1992, sowie der Themenband "Der Messias", JBTh 8 (1993). Die seit 1992/93 zugänglich gewordenen Qumran-Texte konnten von O. nicht mehr berücksichtigt werden.

Ein solches Vorhaben könnte vermuten lassen, daß hier ­ entgegen dem neueren Forschungstrend ­ wieder nach einer einheitlichen und allgegenwärtigen jüdischen Messiaslehre bzw. -erwartung z.Z. des Neuen Testaments gesucht wird. Aber O. weiß, daß dies weder möglich noch sachgemäß ist, weil die betreffenden Texte nicht nur äußerst vielgestaltig, sondern auch meistens literarisch oder historisch nicht miteinander verwandt sind. Deshalb beginnt er mit methodischen Vorüberlegungen, die in einer Arbeitsdefinition für messianische Texte und für den Messias münden: Messianisch ist ein Text, "der von einer bestimmten Tradition auf den ’Messias’ bezogen worden ist" (24). "Ein Messias ist eine priesterliche, königliche oder andersartige Gestalt, die eine befreiende Rolle in der Endzeit spielt" (28). Diese bewußt weit gefaßten Definitionen, die sich z.B. nicht auf das Vorkommen der hebr. oder gr. Wurzeln des Wortes "Gesalbter" festlegen lassen, ermöglichen die Einbeziehung wirklich aller einschlägigen und für die jeweiligen messianischen Erwartungen wesentlichen Texte. Da der Vf. bei der Textauswahl zudem die Aspekte der eschatologischen Ausrichtung und der Vorstellung eines eschatologischen Befreiers in den Mittelpunkt rückt, ist das zu untersuchende Material auch nicht uferlos.

Die These, die die Textanalysen leitet, besteht darin, daß die vielfältigen messianischen Anschauungen jeweils in Analogie, ja, Abhängigkeit zu den gegebenen politischen und religiösen Machtverhältnissen stehen. Biblische Traditionen können den Ausgangspunkt messianischer Erwartungen bilden oder liefern Material für ihre Ausformulierung, prägen aber nicht entscheidend ihre Konzeption. "Denn die bestehenden Machtverhältnisse scheinen meistens als das negative, gelegentlich aber auch als das positive Modell fungiert zu haben, mit dem die messianischen Erwartungen konzipiert worden sind und werden konnten. Wenn also die Machtverhältnisse sich ändern, mußten sich die messianischen Erwartungen zwangsläufig auch ändern." (102) Das meint O. mit "Konzeptualisierungsprozeß".

Bei einem solchen Ansatz ist natürlich die genaue historische Einordnung der einzelnen untersuchten Texte entscheidend. Deshalb gliedert O. sein Textmaterial in fünf Untersuchungszeiträume, die jeweils durch politische Machtwechsel voneinander abgegrenzt sind (vormakkabäische Zeit, von Judas Makkabäus bis Pompeius, von Pompeius bis Titus, von Titus bis Bar Koziba, nach Bar Koziba). Jeder Teil beginnt mit einer knappen Einführung in die zeitgeschichtlichen Gegebenheiten. Dann werden die messianischen Texte je für sich analysiert. Schließlich werden die Untersuchungsergebnisse im Sinne der These miteinander verbunden.

Die Ergebnisse der Einzelanalysen werden abschließend in einer mehr als fünf Seiten umfassenden Tabelle zusammengestellt, aus der man sich zu jeder behandelten Stelle (ca. 150 Belege aus ca. 75 Schriften) den biblischen Bezug, das Messias-Konzept und die historische Bezugsperson heraussuchen kann. In der Zusammenfassung des Vf.s heißt es dazu: "Von den am häufigsten vorkommenden Messias-Vorstellungen: ­ der Messias als der eschatologische König, Priester, Richter, Kriegführer oder Menschenähnlicher bzw. Sohn des Menschen ­ fiel vor allem für das erste Jahrhundert v. d. Z. die Kombination des Königs und des Priesters und für das erste Jahrhundert n. d. Z. die Kombination des Kriegs-Messias und des himmlischen Richters bzw. Sohn des Menschen auf." (287)

Eine zweite Tabelle erfaßt die wichtigsten Bibelstellen, die in den untersuchten Schriften messianisch ausgelegt worden sind. Sie korrespondiert mit einer einleitend gebotenen Übersicht über die Bibelstellen, die in der Auslegungsgeschichte messianisch verstanden wurden. Der Vergleich ergibt: Für weniger als ein Viertel der später messianisch gedeuteten Bibelstellen ist bereits in hellenistisch-römischer Zeit ein solches Verständnis belegt. Zudem wurden in diesem Zeitraum nur wenige Bibelstellen mehr als einmal unabhängig voneinander messianisch ausgelegt, und wenn, dann in ganz verschiedener Weise. O. schließt daraus, "daß keiner der biblischen Verse zu einer bestimmten und derselben messianischen Auslegung führt". Die Bibelverse dienen lediglich als ",Inspirator’ von Messias-Konzeptionen, die jedoch irgendwo anders ihren Ursprung haben" (302).

Dieses "irgendwo anders" hat nun O. im Verlaufe seiner Untersuchung immer wieder eindeutig und ­ hier setzt meine Kritik an: ­ einseitig mit den religiös-politischen und sozialen Machtverhältnissen identifiziert. Die messianischen Konzeptionen seien in die Endzeit projizierte und auf das Verhältnis zwischen Gott und seinem Bevollmächtigten übertragene Widerspiegelungen irdischer Machtverhältnisse (72). Diese spielen die eigentlich dominierende Rolle im Konzeptualisierungsprozeß (188). Die Zukunftserwartungen spiegeln die sozialen Interessen bestimmter Gruppierungen wider (232). Die sozialen und politischen Verhältnisse bilden die Basis (194) und den Ursprung (286) der messianischen Erwartungen.

Wenn O. eine derartig pointierte kausale Ableitung messianischer Erwartungen aus historischen Gegebenheiten behauptet, dann darf man erwarten, daß er sie an den behandelten Texten in exakter historischer Argumentation nachweist. Daß er dies nur in den wenigsten Fällen leistet, ist ihm freilich nur zum Teil anzulasten. Denn bei sehr vielen der behandelten Texte ist schon eine genaue Datierung außerordentlich schwierig bis unmöglich. Das sollte freilich von vornherein zur Zurückhaltung gegenüber einem methodischen Ansatz mahnen, der die exakte historische Einordnung der Belege zur Voraussetzung macht. Aber auch über diese durch die Quellenlage vorgegebenen Schwierigkeiten hinaus ist O.s Argumentation gerade im zeitgeschichtlichen Bereich unzureichend. Sozial- und religionsgeschichtliche Gegebenheiten werden relativ undifferenziert als "Hintergrund" für die jeweils behandelte Periode vorausgesetzt. Historische Bezüge ergeben sich kaum einmal aus der detaillierten Textanalyse. Sie werden vielmehr jedem Kapitel in allzu knapper (und meist aus dem "neuen Schürer" übernommener) Zusammenfassung vorangestellt und dann erst wieder beim Vergleich der in den untersuchten Texten belegten messianischen Vorstellungen ebenso summarisch aufgenommen, wobei sich O. meist den Thesen von H. G. Kippenberg (Religion und Klassenbildung im antiken Judäa, Göttingen 1978) anschließt .

Hinzu kommen einige Ungereimtheiten bei der Zuordnung von Quellen zu den behandelten Zeitperioden sowie Unrichtigkeiten im historischen Detail. So behauptet O. z.B., mit der Eroberung Jerusalems durch Pompeius "kam das ganze jüdische Gebiet unter römische Verwaltung" (104, vgl. 107; 187 ist für diese Zeit gar von Palästina als römischer Provinz die Rede!). Schürer, auf den sich O. dabei beruft, stellt an der bezeichneten Stelle dagegen heraus, daß Pompeius klug genug war, an den inneren Verhältnissen des Landes nichts wesentliches zu verändern! Das Matthäusevangelium behandelt O. im Kapitel "von Pompeius bis Titus", obwohl er selbst meint, daß es nach 70 geschrieben wurde (165). Ähnliches gilt für das Lukasevangelium, wobei noch zusätzlich unklar bleibt, ob O. auf S. 170 von einer vor-lk oder lk Redaktion der Apokalypse von Mk 13 die Rede ist. Lk- und Mt-Texte kommen außerdem noch als ",Q’-Stellen" in demselben Kapitel vor, während die beiden Evangelien in ihrer Endgestalt im folgenden Kapitel "von Titus bis Bar Koziba" keine Berücksichtigung finden. Das Johannesevangelium wird überhaupt nicht behandelt, taucht aber plötzlich mit drei Belegen in der Ergebnisübersicht auf. Die Johannesoffenbarung wird vorsichtig und mit bedenkenswerten Argumenten in die Zeit unter Nero datiert, aber im Kapitel "von Titus bis Bar Koziba" behandelt. Der Kirchenvater Epiphanius wird durchgehend "Epiphanes" genannt. Im Stellenregister fehlt er. Schließlich: Unter den modernen Übersetzungen des äthiopischen Henoch nennt O. eine Textausgabe mit franz. Übers. des slavischen Henoch (Vaillant)!

Die Grenzen des methodischen Ansatzes der Arbeit zeigen sich aus der Perspektive des Neutestamentlers besonders bei der Jesusüberlieferung. Sie wird ­ neben den PsSal, einigen Qumran-Schriften, Philo, Josephus, äthHen und LibAnt ­ im Abschnitt "von Pompeius bis Titus" behandelt, wobei sich O. ganz auf "Q" (Lk 3,16 f.; 6,22; 11,30; 12,8 f.; 17,24.26.30; nach O. sind dies alles "ursprüngliche Prophetensprüche Johannes des Täufers" [140]) sowie die mk Apokalypse einschließlich ihrer Redaktion durch Mt und Lk konzentriert.

Dagegen wird auf den ganzen Bereich der erzählenden Überlieferung von Jesu Tun nirgends Bezug genommen, und auch die Perikope Lk 7,18-23 par. Mt 11,2-6 ("Täuferanfrage"), die mit diesem Wirkungsbereich unmittelbar zu tun hat und gleichzeitig in mehrfacher Hinsicht unter die Textauswahlkriterien O.s fallen müßte (vgl. die Rede von dem "Kommenden", vom Auferwecken der Toten, überhaupt von den Werken dessen, der in Jes 61,1 als Gesalbter bezeichnet wird [merkwürdigerweise spielt diese Stelle im ganzen Buch keine Rolle und fehlt in den beiden Tabellen biblischer "Messias-Stellen"!]), wird nicht behandelt. Natürlich liegt hier für O.s Ansatz das Problem darin, daß an diesen Stellen ­ jedenfalls aus der Sicht der sie tradierenden Jesus-Anhänger und aufgrund ihrer Glaubenserfahrungen ­ vorausgesetzt ist, daß der Messias bereits gekommen ist, während die frühjüdischen Texte sein Kommen für die wie nah auch immer bevorstehende Zukunft erwarten. Aber das gilt ja auch für die übrigen von O. behandelten neutestamentlichen und frühchristlichen Belege.

Im Hinblick auf die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu werden zudem Mk 14,62 par. und Mt 12,41 par. kurz herangezogen. Im Rahmen der "Zusammenfassung und These" zum Abschnitt über Mk 13 kommen noch, als "Stellen, in denen von jüdisch-römisch-christlichen Konfrontationen die Rede ist" (176), Mk 11,1-19.27-33; 12,35-37; 14,53-65, jeweils mit Parallelen, zur Sprache. Daraus ergibt sich für O. folgendes Bild: "Die ’Messianisierung’... des Propheten und Menschensohnes Jesu fand zwischen 65 und 80 n. d. Z. in einer Auseinandersetzung mit den religiösen und politischen Führern Palästinas und Roms statt. Sie wäre allerdings nur schwer möglich gewesen ohne die apokalyptische Grundeinstellung der paulinischen Theologie und die Predigt vom kommenden Reich Gottes im Munde Johannes des Täufers und Jesu von Nazareth." (180). Sucht man nun, O.s Ansatz folgend, im o.g. Zeitraum nach den historischen Ursachen solcher nachträglichen "Messianisierung" Jesu, des irdischen Propheten und Verkünders des kommenden Gottesreiches (173), so wird man auf "die allgemeine Situation nach 70" verwiesen, eine "Zeit der Verfolgungen", in der sich die christlichen Geschichtsschreiber und Theologen "gegenüber ihren jüdischen und römischen (oder auch syrischen, kleinasiatischen und anderen) Zeitgenossen und Gegnern... um eine alternative Gesellschaftsordnung, die gerade nach den Jahren 66-70 mehr als notwendig war", bemühten. (181) Eine derartig unscharfe Situationsbeschreibung, die leider in O.s Buch auch nirgendwo konkretisiert wird, erklärt nichts, schon gar nicht die Entfaltung messianischer Vorstellungen bei der sprachlichen Erfassung und Vermittlung des Jesus-Geschehens durch die frühen christlichen Gemeinden.

Damit soll keineswegs in Abrede gestellt werden, daß bei solcher Entfaltung die historischen, sozialen, politischen und religiösen Verhältnisse eine wesentliche Rolle gespielt haben. Und niemand kann heute mehr zurück hinter die Erkenntnis, daß gerade auf dem Feld messianischer Erwartungen im Frühjudentum eine außerordentliche, jeweils auch situationsbedingte Vielfalt herrschte, bis hin zum gänzlichen Fehlen solcher Erwartungen in erheblichen Teilen der frühjüdischen Literatur. Aber die geschichtliche Bedingtheit messianischer Konzeptionen müßte jeweils im Einzelfall anhand konkreter historischer Vorgänge und Gegebenheiten aufgewiesen werden. Und wenn man dem Selbstverständnis der Autoren und Tradenten gerecht werden will, das in den frühjüdischen messianischen Texten ebenso erkennbar ist wie in den neutestamentlichen und frühchristlichen, dann wird man nicht davon absehen können, daß es ihnen gerade um die in den jeweiligen geschichtlichen Erfahrungen begegnenden Gotteserfahrungen ging. O. reflektiert zwar ausführlich über das Verhältnis von Text und Geschichte, läßt aber diesen für biblisches, frühjüdisches und urchristliches Denken, Glauben und Leben konstitutiven Zusammenhang vom Handeln Gottes in der Geschichte mit seinem Volk (ungeachtet seines Buchtitels!) außerhalb des Blickfeldes.

Dennoch soll abschließend das Verdienst der Arbeit gewürdigt werden. O. beherrscht in beeindruckender Weise ein überaus umfassendes Quellenmaterial von der ganzen Breite der frühjüdischen Literatur bis hin zu den neutestamentlichen Apokryphen, den Apostolischen Vätern, der Gnosis und ­ besonders souverän ­ der rabbinischen Literatur. Dabei werden zu Recht die neutestamentlichen und frühchristlichen Quellen als Teil dieser Vielfalt einbezogen, ohne daß die spezifische Umprägung messianischer Überlieferungen durch Jesus und seine Anhänger nivelliert wird. O.s Untersuchung erfaßt somit zum ersten Mal vollständig ­ i. S. der vom Vf. gewählten, m.E. sachgemäßen Definitionen ­ die Texte aus hellenistisch-römischer Zeit, die für das Verständnis der vielfältigen Ausprägungen messianischer Erwartungen und Vorstellungen im Frühjudentum wesentlich sind. Darin ist sie für die künftige Forschung ebenso wegweisend wie in dem differenzierten Nachweis charakteristischer Züge der einzelnen analysierten Texte und der Herausarbeitung von messianischen Konzeptionen, die in bestimmten Phasen der Geschichte des Frühjudentums in den Vordergrund traten.