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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

53–55

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rölver, Olaf

Titel/Untertitel:

Christliche Existenz zwischen den Gerichten Gottes.Untersuchungen zur Eschatologie des Matthäusevangeliums.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2010. 642 S. 24,0 x 15,8 cm = Bonner Biblische Beiträge, 163. Geb. EUR 74,90. ISBN 978-3-89971-767-9.

Rezensent:

Peter Müller

In seiner bei Karl Löning entstandenen Dissertation verortet Olaf Rölver zunächst sein Thema in der aktuellen theologischen Dis­kussion, die er durch folgende Merkmale charakterisiert (13–32): Randständigkeit des Gerichtsgedankens, Prävalenz des heilsamen Aspekts von Religion, Abschiebung des Gerichtsgedankens in die Ethik, die Mythologie oder Metaphorik. Der Gerichtsgedanke sei aber grundsätzlich als Teil der Theodizeeproblematik und be­sonders für das Mt zu bedenken; hier sei das Gericht so präsent wie sonst kaum im Neuen Testament, häufig aber weginterpretiert worden oder habe zu antijüdischen Klischees geführt.
Im forschungsgeschichtlichen Überblick (32–68) erkennt R. eine Interpretationslinie in dem Versuch, die matthäischen Gerichtsaussagen der Ekklesiologie und Ethik zuzuordnen und als pädagogisches Mittel zu verstehen (35.41). Eine andere Linie verstehe die Zerstörung Jerusalems als Gericht über Israel und dessen Ablösung durch die Kirche. Dem stellt R. die lebensdienliche Relevanz apokalyptischen Denkens in Krisensituationen gegenüber (45–50). Diese Perspektive sei mit sozialgeschichtlichen, kulturanthropologischen, literaturwissenschaftlichen und bibeltheologischen Ansätzen zu verbinden (66 f.).
Im zweiten Teil seiner Arbeit (97–344) konzentriert R. sich auf die Analyse von Mt 21–23. Dieser Text spiele für das gesamte Evangelium eine herausragende Rolle: Mit dem Einzug nach Jerusalem erreiche die Erzählung einen Höhepunkt, und angesichts verschiedener Voraushinweise werde Jerusalem und sein Tempel als der »kritische Ort« schlechthin verstanden (92). Die Einzelszenen der drei Kapitel werden syntaktisch, semantisch und pragmatisch er­schlossen. Die Frage, ob Jerusalem und der Tempel von einem innerjüdischen Blickwinkel oder von außen kritisiert werden, spielt dabei durchgängig eine Rolle. Der Einzug in Jerusalem und die Ereignisse im Tempel 21,1–17 stellen nach R. den Tempel ebenso wenig grundsätzlich infrage (139) wie die folgenden Parabeln die Existenz Israels als »Weinberg Gottes« (238). Zwar werde in 22,1–14 die Zerstörung Jerusalems als Konsequenz der ablehnenden Haltung der jüdischen Repräsentanten gegenüber Jesus zugeschrieben (255); dass aber die Eingeladenen nunmehr »die Heiden« im Gegensatz zu »den Juden« seien, sei vom Text her nicht gedeckt (256). Die Pharisäerrede stehe zwar mit ihren polemischen Pauschalierungen im Gegensatz zu »ganz Israel«, sei aber gleichwohl als Dokument innerjüdischer Auseinandersetzungen zu lesen (341). Die Grundfrage, »ob sich die matthäische Gemeinde noch als integraler Be­standteil des Judentums versteht oder ob bereits eine Trennung stattgefunden hat«, wird im ersten Sinn beantwortet: Das Evangelium gehöre zu den verschiedenen Versuchen, nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels »die jüdische religiöse Kultur« neu zu begründen, und zwar mit Hilfe eines an der Person Jesu orientierten Sonderwegs, der vor allem mit dem protorabbinischen Judentum pharisäischer Provenienz als »Sparringspartner« streite (342).
Nach der Analyse von Mt 21–23 folgt in Teil 3 ein »semantischer Survey«, »der anhand von Wiederaufnahmen von Wörtern in je verschiedenen Kontexten versucht, den Blick vom Teiltext auf den Gesamttext zu weiten« (92) und die daraus sich ergebenden Sinnlinien nachzuzeichnen (345–552). Mit Hilfe bestimmter Schlüsselbegriffe müsse der Gesamttext (wegen seiner Narrativität von Beginn an, 348) abgeschritten werden, um herauszufinden, »auf welche Weise das symbolische Universum des Matthäusevangeliums se­mantisch bestückt wird« (347). R. sieht die Schlüsselbegriffe »Metanoia«, »Basileia«, »erfüllen« und »Gerechtigkeit« eingeordnet in eine Sinnlinie der »Erneuerung der Gott-Mensch-Beziehung« (384). Mt verstehe die Gegenwart als Krise zwischen dem ergangenen Gericht über Jerusalem und dem kommenden Jüngsten Tag und stelle seine Leserinnen und Leser in die eschatologische Situation der Probe, die eine Erneuerung des Verhältnisses von Gott und Mensch erfordere; hierin sei der eschatologische Grundtenor des Evangeliums begründet (385). Neben der pragmatischen Dimension der matthäischen Eschatologie erkennt R. auch eine gnoseologische, die sich vor allem in den Wortfeldern »Lehren/Lernen« und »Nachfolgen« zeige (398–414); sie mache deutlich, wie die Personen innerhalb der Textwelt mit dem notwendigen Wissen für die Neuorientierung ausgestattet würden (386).
Im vierten Teil (554–573) fasst R. seine Ergebnisse thesenartig zusammen. Die Gemeinde des Mt stehe »zwischen den Gerichten« und verstehe ihre Gegenwart als Krisenzeit. Im Rückblick auf die Katastrophe ringe Mt »um die Neubegründung ›jüdischer religiöser Kultur‹« (555), die die Nachfolge Jesu und seine Toraauslegung als soteriologische Option offeriere (557). Der Wille Gottes in der Schrift sei dabei identisch mit dem, was sich im Auftreten Jesu ereignet habe, wobei die Verbindungslinie zwischen beidem im Text des Mt gezogen werde (561). Das »Jüngste Gericht« sei Ausdruck der Hoffnung auf die in Kürze zu erwartende, die Krisenzeit beendende Aufrichtung der Gottesherrschaft (564) und zugleich der theologische Versuch der Krisenbewältigung im Rahmen der Theodizeeproblematik (568). Die Hoffnung auf Gottes Eingreifen sei das Zentralthema der »theodizeesensiblen Theologie an der Seite Israels« (572). Deshalb stehe die matthäische Eschatologie weder primär im Dienst der Ethik (570), noch bedeute das Gericht die Verwerfung oder Ablösung Israels; die Kritik an den Gegnern sei durchweg als Binnenkritik zu verstehen (565–567).
Die Arbeit ordnet sich in die vorherrschende Auffassung vom MtEv als judenchristliches Evangelium ein, das die Ereignisse des Jahres 70 und die sich daran anschließende Trennung von Israel zu überwinden versucht. Strittig ist, ob dieser Trennungsprozess noch im Gang ist (nur dann wäre Mt tatsächlich »innerjüdisch« zu lesen) oder bereits vollzogen. R. versteht Mt im ersten Sinn und damit als Binnenkritik (567 u. ö.). Dass Mt im Rückblick auf die Katastrophe »um die Neubegründung jüdischer religiöser Kultur« ringe (555), setzt m. E. allerdings einen falschen Akzent: Es geht Mt nicht darum, »die jüdische religiöse Kultur« (wobei noch genauer zu klären wäre, was das ist) neu zu begründen; sie wird vielmehr neu akzentuiert und an Jesus als dem maßgeblichen Erfüller der Tora orientiert (Mt 5,17–19). Auch wenn R. die Eschatologie dezidiert nicht im Dienst der Ethik sieht, dürfen die intensiven Querverbindungen zwischen beidem doch nicht übersehen werden.
Einige methodische Anfragen schließen sich an: Kapitel 21–23 sind fraglos ein wichtiger Abschnitt innerhalb des Mt und seiner Gerichtsaussagen. Wird er aber zur Grundlage der Betrachtung des Mt insgesamt gemacht, so müsste dies noch stärker vom Gesamtaufriss des Evangeliums her begründet werden. Andere Abschnitte ließen sich gut begründet als ähnlich gewichtig darstellen. Im »semantischen Survey« werden die zu untersuchenden »wichtigen Wörter« faktisch vorausgesetzt. Und so richtig es ist, Mt als Narration von Anfang an nachzugehen (348), sollte der Schluss nicht übergangen werden. Im Missionsauftrag des Auferstandenen (28,18–20) laufen wichtige Sinnlinien des gesamten Evangeliums zusammen und auf eine Öffnung im Blick auf das Heidentum hinaus; eine stärkere Berücksichtigung des Schlussabschnitts könnte teilweise zu anderen Ergebnissen führen.
Diese Bemerkungen heben freilich nicht auf, dass R.s Studie gründlich erarbeitet, gut lesbar und lesenswert ist.