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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

44–47

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Crüsemann, Marlene

Titel/Untertitel:

Die pseudepigraphen Briefe an die Ge­meinde in Thessaloniki. Studien zu ihrer Abfassung und zur jü­disch-christlichen Sozialgeschichte.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 336 S. 24,0 x 16,0 cm = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 191. Kart. EUR 44,80. ISBN 978-3-17-021149-0.

Rezensent:

Christoph vom Brocke

Die vor allem durch ihre Beiträge zur feministischen und sozialgeschichtlichen Auslegung des Neuen Testaments bekannte Theologin Marlene Crüsemann legt mit diesem Buch eine aktualisierte Fassung ihrer schon 1999 an der Universität Kassel eingereichten und von Luise Schottroff betreuten Dissertation vor (»Die Briefe nach Thessaloniki und das gerechte Gericht. Studien zu ihrer Ab­fassung und zur jüdisch-christlichen Sozialgeschichte«). Im We­sentlichen beschränken sich die Aktualisierungen auf die übliche Einarbeitung der inzwischen erschienenen Literatur und die »Profilierung der Argumentation« (9), weniger auf die Gesamtdis­position und den inhaltlichen Gehalt.
Die Hauptthese C.s, die schon im Titel »Die pseudepigraphen Briefe« anklingt, lässt aufhorchen – weniger in Bezug auf den zweiten, als vielmehr in Bezug auf den ersten Thessalonicherbrief, steht sie doch gegen den unter Neutestamentlern anerkannten Konsens, dass der 1Thess der älteste erhaltene Paulus-Brief ist (ca. 50 n. Chr.). Ebendas bestreitet C. und sieht den Brief als ein nachapostolisch-pseudepigraphes Werk an, das die Kommunikation zwischen den angeblichen Verfassern Paulus, Silvanus und Timotheus (1Thess 1,1) und der Gemeinde in Thessaloniki lediglich fingiere. C. nimmt damit die im 19. Jh. durch die Thesen vo n Karl Schrader und Ferdinand Christian Baur ausgelöste, aber seitdem zum Stillstand ge­kommene Diskussion um die Echtheit des Briefes wieder auf.
Schon die Einleitung formuliert kritische Anfragen an die gängige Einordnung des 1Thess als frühen Paulusbrief. Als Begründung für diese Skepsis werden die von der Exegese schon seit Langem beobachteten Eigenheiten des 1Thess angeführt, z. B. die fast durchgängige Gestaltung in der ersten Person Plural, aber vor allem die extrem antijüdische Passage 2,14–16 (… der Zorn Gottes ist schon in vollem Maß über sie gekommen). Im Gegensatz zu älteren Auslegungen, deren Defizite laut C. darin bestanden, vorschnell Querverbindungen zu anderen paulinischen Schriften gezogen zu haben, sollen die für C.s These relevanten Texte nun konsequent »aus sich selbst heraus« (24) betrachtet werden.
Die Argumentation beginnt mit einem Blick auf den sperrigen Text 1Thess 2,14–16 und seine diversen, im Einzelnen aber unbefriedigenden Interpretationsversuche (Abschnitt 2: »Die Juden« als Feinde: 1Thess 2,14–16). Als Ergebnis wird festgehalten, dass der Text keine Interpolation darstelle, sondern fest in den Kontext des Briefes verankert ist. Das »bedeutet methodisch jedoch nicht, dass nun die antijüdischen Züge des Textes unter allen Umständen relativiert werden müssten, um ihn noch als paulinisch betrachten zu können« (49). Im Gegenteil: Hier liege eine absichtsvolle und überlegte Komposition mit einer »Kumulation von Antijudaismen vor, die im Neuen Testament nicht ihresgleichen hat« (60). Sozialgeschichtlich gesehen habe die Rede vom göttlichen Zorngericht über die Juden für die sich als heidenchristlich definierende Ge­meinde von Thessaloniki die Funktion eines Hoffnungszeichens, garantiere dieses doch Gottes analoges Eingreifen gegenüber den Bedrängern der Gemeinde. Gleichzeitig wird der bereits vollzogene Zorn mit einem nicht näher genannten »aktuellen, für die Judenheit katastrophalen Ereignis« (75) identifiziert. Es liegt auf der Hand, dass C. damit die Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. meint, worauf sich 2,16 im Rückblick beziehe (vgl. 240). Doch wenn 2,14 ff. keine spätere Interpolation darstellt, sondern integraler Bestandteil des Briefes ist, und andererseits die Tempelzerstörung als Ereignis der Vergangenheit im Hintergrund steht, wer ist dann der Autor des 1Thess?
C. geht der Frage der Abfassung des Briefes nach (Abschnitt 3: Zur Abfassung des ersten Briefes an die Gemeinde in Thessaloniki), insbesondere der des Autoren-Plurals, der als ein »echter Plural«, als ein »reales ›Wir‹« (83) verstanden werden müsse, so dass der 1Thess insgesamt als ein Gemeinschaftswerk zu interpretieren sei. Daher solle man in Zukunft »auf Ausdrücke wie ›Paulus sagt, hofft, schreibt‹ etc. verzichten und dazu übergehen, den Text als Teamarbeit zu betrachten und entsprechend zu kommentieren« (95).
So sehr der 1Thess als eine Co-Produktion der im Präskript genannten Personen erscheint, so sehr muss auch gesehen werden, dass Paulus die Hauptperson ist (vgl. auch 2,18; 3,5): Nicht ohne Grund steht sein Name am Anfang des Briefes! Hinzu kommt, dass im Brief benutzte Wendungen wie der Vergleich »Ziehmutter« – »Kinder« (2,7) bzw. »Vater« – »Kinder« (2,11) nur auf der Basis eines singularischen »wir« funktionieren.
Aus der Beobachtung, dass der 1Thess im Gegensatz zu den »echten« Paulusbriefen – hier argumentiert C. nun also auch auf der Basis des Quer-Vergleiches – keinerlei Information über die Weiterführung des Kontaktes zwischen Autoren und Gemeinde, auch nicht über die den Brief überbringende Kontaktperson enthält, da Timotheus als Mitverfasser dafür nicht infrage komme, schließt C., dass an eine Fortsetzung der Beziehung zur Gemeinde nicht gedacht sei, ja der Brief vermutlich überhaupt nicht überbracht werden sollte. Stattdessen müsse man damit rechnen, dass gar »keine authentische briefliche Kommunikation vorliegt« (124). Das ist zwar ein möglicher Schluss, aber ist es auch ein zwingender?
C. zufolge passen auch die zahlreichen Andeutungen über das (vermeintliche) Vorwissen der Gemeinde, eingeleitet durch stereotype Wendungen wie »ihr wisst« (1Thess 1,5; 2,1; 2,2; 2,11; 3,3.4; 4,2), »ich erinnere euch« (2,9), »ihr habt nicht nötig« (1,8; 4,9; 5,1) zu ihrer Theorie. Dadurch werde ein realer brieflicher Kontakt lediglich vorgegaukelt, da ja nur das ausführlich entfaltet werde, was die Gemeinde eigentlich längst weiß. Der Text rede somit »quasi zum Fenster hinaus« (284) – die gängige Deutung als Element der rhetorischen Gestaltung wird abgelehnt.
Bleibt die Frage: Warum aber tut man das? Was ist das Motiv für ein derartiges pseudepigraphes Schreiben? Antwort: Damit die Ge­meinde auf diese Weise einen Brief des Apostels besitzt, auf den sie sich berufen kann. Denn die »Gemeinde verfügt mit diesem Schreiben über eine Urkunde ihrer sehr erfolgreichen apostolischen Gründung, die andere paulinische Gemeinden Griechenlands als bloße Nachahmerinnen der thessalonischen in ihren Schatten verweist« (159). Der Entstehungsort dieses Schreibens müsste demnach – auch »wegen des in ihm anklingenden Lokalkolorits« (238) – im Umkreis der Gemeinde selbst zu suchen sein.
Bereits Anfang des 20. Jh.s war darauf hingewiesen worden, dass der Abschnitt über die Parusie Christi, besonders 1Thess 4,15 (Luther-Übersetzung: »wir, die wir leben und übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn«) mit seiner akuten Naherwartung einer »Spätdatierung« des 1Thess entgegensteht. Da dieser Text außerdem gelegentlich in den Rang eines Echtheitsbeweises für die paulinische Abfassung erhoben wurde, muss sich C. auch damit auseinandersetzen (Abschnitt 5: Die Zukunft der griechischen heidenchristlichen Gemeinde: 1Thess 4,13–5,11). C. weist nach, dass die im Griechischen verwendete Partizipialkonstruktion οἱ περιλειπόμενοι lediglich spezifizierenden Charakter hat und der Text demgemäß zu übersetzen sei: »wir, insofern wir übrigbleiben bis zur Wiederkunft« (196). Damit ist der Weg frei für eine Auslegung, die aus dem Text weder eine brennende Naherwartung lesen noch Paulus zu den bei der Parusie Lebenden zählen muss. Einer späteren Datierung des 1Thess stehe der Text dann auch nicht mehr entgegen. Allerdings ist anzumerken, dass der Verfasser von 2Thess 2,1 f. den 1Thess dann völlig falsch verstanden hätte, wenn er schreibt, dass die von ihm adressierte Gemeinde sich von einem angeblichen Brief nicht irre machen lassen solle, »als sei der Tag des Herrn schon da« – womit im Kontext eindeutig die Parusie gemeint ist, auch wenn C. 1Thess 2,2 eher mit dem Zorngericht über die Juden (1Thess 2,16) in Verbindung bringen möchte (vgl. 256 f.).
Nicht minder interessant sind C.s Ausführungen zur Herrscher-Parusie, zur Einholung des Kyrios durch die städtische Bürgerschaft sowie zur Rettung der Gemeinde als »Raub Gottes« ohne Gericht (205 ff.). C. liest 1Thess 4,13 ff. mit 1,10 zusammen und deutet die bei der Parusie erfolgende Entrückung »auf den Wolken in die Luft« (4,17) als Errettung vor dem auf der Erde über Stadt und Land ergehenden Zorngericht: »Denn die Erde und damit auch der Bereich der Polis Thessaloniki ist Schauplatz der Ereignisse am ›Tag des Kyrios‹, denen die Glaubenden auf besondere Weise entnommen sind« (218). Zielpunkt des Ge­richts sei eben nicht die Gemeinde, sondern die Vernichtung der »Anderen« (220 f.), die sich als Propagandisten der Pax Romana in falscher Sicherheit wiegen. So gesehen sei 1Thess durchaus als »lokale Widerstandsschrift gegen Rom« (239) interpretierbar, und die im Präskript benutzte, im Corpus Paulinum einzigartige Anrede der Gemeinde mit dem nomen gentilicium als »Gemeinde von Thessalonichern« (1Thess 1,1: ἐκκλησία Θεσσαλονικέων) ein Akt der Opposition gegenüber der Bürgerversammlung der Polis.
Insgesamt muss man sagen, dass die von C. vorgelegte Publikation ein bemerkenswerter Gegenentwurf zur einschlägigen Thessalonicherbrief-Exegese ist. Die Untersuchung basiert auf solider exegetischer Arbeit, ihr Duktus wirkt bis zum Ende hin stimmig, so dass die Grundthese – so ungewöhnlich sie auch ist – einer gewissen Plausibilität nicht entbehrt. Die akribisch untersuchten »Ungereimtheiten« im 1Thess sind zweifelsohne vorhanden. Doch erlauben sie wirklich den Schluss, 1Thess sei eine pseudepigraphische Schrift, oder unterstreichen sie nur die literarische und theologische Sonderstellung eines Briefes, der noch ohne vergleichbare Vorbilder verfasst wurde, da er ein Frühwerk des Apostels ist, vielleicht sogar sein erster Gemeindebrief überhaupt?
Auch wenn man sich in dieser Frage gegen die These C.s entscheidet – das Verdienst der Arbeit bleibt es, die exegetischen Probleme des 1Thess schonungslos beim Namen genannt und die kritischen Anfragen des 19. Jh.s wieder neu in das Bewusstsein gegenwärtiger Exegese gerückt zu haben.
Auf folgende kleine Fehler sei noch hingewiesen: S. 47, Z. 27 f. ist ἐγενήθητε nicht Imperfekt, sondern Aorist; das Teilzitat aus Josephus (Ap II 95) lautet ius iurandum facere statt iusirandum facere (51, Z. 16 f.); S. 109, Z. 22 ist die Formulierung mehr als unglücklich: Denn freiwillig soll nicht Onesimus, sondern Philemon handeln (vgl. Phlm 14).