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Ausgabe:

Januar/2012

Spalte:

23–25

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Dinzelbacher, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 1: Altertum und Frühmit­telalter.

Verlag:

Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 2011. 421 S. m. Abb. 24,0 x 17,8 cm. Geb. EUR 94,00. ISBN 978-3-506-72020-7.

Rezensent:

Christoph Auffarth

Elf Jahre nach dem Erscheinen von Band 2 (Hoch- und Spätmittelalter) und vier Jahre nach Band 5 (über die Zeit von 1750 bis 1900) liegt mit diesem Band 1 nun ein dritter Band aus dem insgesamt auf sechs Bände geplanten Handbuch von Peter Dinzelbacher vor. Die Verzögerung bei der Entstehung des hier zu besprechenden Bandes ist dadurch bedingt, dass ihn ursprünglich ein anderer Autor übernehmen sollte und der Herausgeber nachträglich eingesprungen ist, sie hat aber m. E. auch mit Schwierigkeiten in der Konzeption des Handbuchs zu tun.
Ein Grundproblem ist, dass der von dem Handbuch insgesamt beschriebene (spätere) »deutschsprachige Raum« bezogen auf das Altertum (Germanen, Kelten, Völkerwanderung) und das Frühmittelalter keine sinnvoll abgrenzbare geographische Einheit darstellt – weder im Hinblick auf Herrschaftsbereiche noch auf damalige Sprachen noch auf Religion. Für das Christentum im Fränkischen Reich werden zudem durch diese Abgrenzung Quellen ausgeschlossen (wie Gregor von Tours), die für eine Religionsgeschichte die interessantesten Fallbeispiele geboten hätten.
Die kurzen Kapitel über die Religion der Kelten (H. Sonnabend, 13–32), Germanen (souverän B. Maier, 33–57), die Völkerwanderung und Merowinger (W. Heinz, 59–80) und die Juden sind von anderen Autoren verfasst. Man sieht ihnen an, dass sie schon vor Jahren entstanden sind (306, Anm. 52 ist ein Aufsatz »im Druck«, der 1996 erschienen ist); das Kapitel über die Slawen (von dem verstorbenen L. Moszynski, 268–283) ist leider völlig unbrauchbar. Glänzend problemorientiert ist dagegen das Kapitel über Juden im Früh- und Hochmittelalter (J. Heil, 285–304). Dahinter bleibt deutlich zurück, was D. selbst über das Judentum ausführt mit Stereotypen wie die »altjüdische Gesetzesreligion« (126).
Im dem von D. selbst verfassten Hauptteil imponiert zunächst, über welche Materialsammlung er verfügt, obwohl den Band ursprünglich ein anderer Autor schreiben sollte. Beim Lesen stößt man immer wieder auf Details, die in die religionsgeschichtliche Diskussion bisher nicht eingegangen sind; die Nachweise in den Anmerkungen führen allerdings oft nicht direkt zu den Quellen­texten, sondern zu Sekundärliteratur, so dass man zum Auffinden der Quellen auf ergänzende Lektüre angewiesen ist.
So sehr man viele überraschende Beispiele, gute Belege, die Berücksichtigung österreichischer Fälle und die Einbeziehung von Frömmigkeitsgeschichte schätzen mag, ein überzeugendes Konzept von Religionsgeschichte fehlt dem Handbuch. Das Anliegen einer methodischen Abgrenzung lässt den Herausgeber polemisch gegen die Kirchengeschichtsschreibung und gegen die »vorgeschriebene« Religion auftreten. Dennoch kommt auch D. nicht darum herum, dass die vorliegenden schriftlichen Quellen für das Frühmittelalter ausschließlich von Klerikern verfasst und bearbeitet wurden. Es gelingt ihm selten, die Quellen gegen ihre Intention hin »dicht« zu interpretieren. So ist kaum mehr als eine Geschichte des christlichen Glaubens herausgekommen, angeordnet nach der in der Religionswissenschaft seit Langem nur noch von Außenseitern verwendeten Methode der Religionsphänomenologie (zur Kritik siehe meine Rezension in ThLZ 132 [2007], 1295–1297). Dem entsprechend geht es D. um Heilige Orte, Zeiten, Personen, Schriften, denen Heiligkeit eignet – und nicht im Sinne einer neueren religionswissenschaftlichen Methode um die Prozesse, wie etwas ge­heiligt oder entheiligt wird.
Wenn auch in D.s Auseinandersetzung mit katholischer Kirchengeschichtsschreibung manche berechtigte Kritik an vorschnellen theologischen Bewertungen stecken mag, wendet er sich gleichzeitig unnötig polemisch gegen religionsgeschichtlich wichtige Konzepte wie die Gabengesellschaft und Re­ziprozität oder gegen den »Archaismus« der Heiligkeit des Mittelalters. Bezug­nahmen zu einigen zentralen Diskussionen über die Religion des frühen Mittelalters sucht man in dem Band vergeblich, z. B. zur Memoria-Forschung (nur 155 f.) oder zu den Erkenntnissen der Gold­brakteaten-Forschung (geprägte Scheiben aus Edelmetall, deren Hauptverbreitungsgebiete in Skandinavien liegen und die wichtige Aufschlüsse über ansonsten quellenlose kulturelle Zu­sam­menhänge geben). L. von Padbergs (den D. der katholischen Kirchengeschichtsschreibung zurechnet) »Odin oder Christus« oder Karl Haucks zahlreiche Interpretationen hätten einen neuen Blick auf die Religion der Epoche ermöglicht.
So bleibt in dem Handbuch letztlich die Frage unbeantwortet, wo gelebte Religion und Frömmigkeit von Laien greifbar wird – und warum es nicht gerade um die gelebte Religion der Mönche und Kleriker gehen sollte. Die Vielfalt der Mönchtümer, wie sie schon F. Prinz herausgearbeitet hatte, wird bei D. auf die Wüstenväter-Tradition reduziert, der er sogar die Benediktsregel zuordnet (105).
Bezüglich der Verwendung von normativen Texten als Quellen zur gelebten Religion entscheidet sich D. sich mit der älteren Forschung dafür, sie als Reaktionen auf gelebte Religion je ihrer Zeit zu lesen, und damit gegen die Nachweise (D. Harmening, Superstitio 1979; nicht verwendet N. Zeddies, religio et sacrilegium 2003 und viele andere, s. D. auf S. 83.109), dass diese Quellen nur Topoi der Spätantike weiterschreiben.
Archäologie und Kunst als Quellen werden kaum genutzt, und wo dies doch geschieht, wird an mehreren Stellen unkritisch auf Literatur aus der Zeit des Nationalsozialismus rekurriert: So zitiert D. zustimmend H. Jantzen – neben Pinder der NS-Kunstgeschichtler – zum Thema ›Germanisierung‹ der Kunst, lehnt es aber ab, über die ideologisch so vorbelastete Frage der Germanisierung des Chris­tentums zu diskutieren. Kann man (101) vorbehaltlos noch Schnürer 31936 zitieren mit seiner Rede von »Rasse- und Religionskämpfen«? Der »germanische Grübler« im Zitat von Seeberg (eines Frontmanns der Deutschen Christen) ist immerhin mit einem Fragezeichen versehen. Zur religionsgeschichtlichen Interpretation der Externsteine im Teutoburger Wald kennt D. nicht das grundlegende Buch von Uta Halle. Und wo nimmt man her, dass der Bluttag von Verden während der Sachsenkriege Karls des Großen ein »unausgesprochenes [!] Menschenopfer für Christus« war (223)? (Das hatte die SS gegen den Widerspruch Hitlers behauptet.)
Die Anordnung von Text, Anmerkungen mit abgekürzten Titeln – dazu fehlende Angaben im Kolumnentitel, auf welche Seiten sich die Anmerkung n bezieht – sowie Bibliographien an drei verschiedenen Orten verteilt führen dazu, dass die Leser auf der Suche nach den Belegen herumirren. Die 69 Abbildungen, davon zwölf in Farbe, sind eher illustrativ beigefügt.