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Ausgabe: | Dezember/2011 |
Spalte: | 1327-1329 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Mittelalter |
Autor/Hrsg.: | Rubin, Miri [Ed.] |
Titel/Untertitel: | Medieval Christianity in Practice. |
Verlag: | Princeton-Oxford: Princeton University Press 2009. XVII, 346 S. m. Abb. gr.8° = Princeton Readings in Religions, 14. Kart. £ 16,95. ISBN 978-0-691-09059-7. |
Rezensent: | Heinrich Holze |
Der Band ist der 14. in der Reihe Princeton Readings in Religions, deren Herausgeber es sich zur Aufgabe gemacht haben, Verstehenszugänge zu den Weltreligionen zu erschließen. Es handelt sich bei diesem Titel um eine Anthologie zur religiösen Lebenspraxis der lateinischsprachigen Christenheit des Mittelalters, die an den in der gleichen Reihe erschienenen Band Religions of Late Antiquity in Practice anschließt. Unter der Herausgeberschaft von Miri Rubin, Inhaberin des Lehrstuhls für mittelalterliche und frühmoderne Geschichte an der University of London, werden thematische Aspekte des vorangehenden, die Antike darstellenden Bandes mit Blick auf ihre Wirkungsgeschichte im abendländischen Christentum aufgegriffen. Dabei geht es um zentrale Aspekte der Lebenswirklichkeit und Glaubenspraxis des mittelalterlichen Christentums.
In einem einleitenden, leider etwas kurz geratenen Abschnitt erläutert die Herausgeberin die methodischen Grundentscheidungen, die der Konzeption des Bandes zugrunde liegen. Im Mittelpunkt steht der Begriff »Praxis«, der als »inspiring term« bezeichnet, freilich weniger erläutert und begründet, als vielmehr einfach vorausgesetzt und im Gegenüber zur theologischen Lehre bestimmt wird. In einem ersten Abschnitt wird der von Geburt bis zum Tode reichende Lebenszyklus des menschlichen Lebens mit seinen religiösen Deutungen behandelt.
Zu den Themen gehören 1. Taufe, 2. Konfirmation, 3. Erziehung, 4. Heirat, 5. Tod und Begräbnis. Auch wird der Blick auf die Lebenswelt von Arbeit, Handel und Reise gerichtet (6.). Ein zweiter Abschnitt greift die Aspekte religiöser Lebensdeutung auf, die sich im Umfeld der kirchlichen Gemeinden entfaltet haben. Dazu gehören 7. die Weihe von Kirchgebäuden, 8. das pastorale Wirken, 9. Predigten von Priestern und Laien sowie 10. das Bekenntnis von Sünde, die Buße und deren lebenspraktische Folgen. Im dritten Abschnitt werden religiöse Vollzüge untersucht, die in Bruderschaften oder in der Zurückgezogenheit praktiziert wurden: 11. das Gebet des Einzelnen, 12. die Kreuzesverehrung und 13. der Vollzug von Heilungsritualen. Ein vierter Abschnitt richtet den Blick auf das Verhältnis der Christen zur Welt: 14. die Praxis des Liebesdienstes im Wirken an den Armen, 15. Heiligenverehrung und Pilgerfahrt, 16. das Streben nach einem vollkommenen Leben in der Welt, 17. Phänomene der Prophetie, Offenbarung und Ekstase, 18. Einsiedler am Rande der Welt sowie 19. Rituale der Macht.
Insgesamt behandeln die Kapitel dieses Buches also nicht die »große« Geschichte von Königen und Päpsten, Bistümern und Mönchsorden, Kreuzzügen und Bewegungen. Auch geht es nicht um theologische und philosophische Debatten und Diskurse, die an den Domschulen und Universitäten geführt wurden. Im Mittelpunkt stehen vielmehr Lebensphänomene, in denen sich die Frömmigkeit der Menschen spiegelt und in denen die kirchlichen und theologischen Diskurse durch Praxis gedeutet wurden. Der geographische und der zeitliche Rahmen sind weit – fast möchte man sagen: zu weit – gesteckt. Die in den Band aufgenommenen Texte wurden zwischen 600 und 1500 geschrieben und entstammen unterschiedlichsten Kontexten, die von Irland bis nach Italien, von Skandinavien bis nach Spanien reichen. Der gemeinsame Nenner besteht darin, dass es sich um den Raum der lateinischen Christenheit handelt. Methodisch werden die einzelnen Themen anhand ausgewählter Quellentexte entfaltet. Sie werden von ausgewiesenen Kennern des jeweiligen Fachgebietes übersetzt und kommentiert. In den literarischen Gattungen, die dabei zu Wort kommen, zeigen sich die unterschiedlichen Lebenszusammenhänge mittelalterlicher Glaubenspraxis.
Das Buch bietet Auszüge aus Gebetsbüchern, Chroniken, Tagebüchern, liturgischen Formularen, Predigten, hagiographischen Werken und Handbüchern des Glaubens. Die Texte dokumentieren die religiöse Praxis mit Blick auf die tägliche Arbeit, auf das gemeindliche Leben und die individuelle Andacht ebenso wie im Zusammenhang der Ausübung politischer und geistlicher Macht. Auf diese Weise werden religiöse Lebenszyklen, Rituale und Erfahrungen, in denen sich die Deutungen der mittelalterlichen Christen spiegeln, exemplarisch erhellt. Zugleich werden Einblicke in die Glaubenspraxis der mittelalterlichen Kirche, in die geistlichen Angebote zur Alltagsbewältigung, zur Heiligenverehrung und zum Streben nach einem vollkommenen christlichen Leben eröffnet. Die Quellentexte erschließen viele und oft wenig beachtete Facetten und Aspekte der religiösen Kultur des Mittelalters. Zu bedauern ist, dass die Herausgeberin, die durch eigene Veröffentlichungen für das Thema bestens qualifiziert ist, den 42 Einzeluntersuchungen keine interpretierende Gesamtschau des Themenfelds zur Seite gestellt hat. Mit ihren Untersuchungen über die Marienverehrung ( Mother of God: a History of the Virgin Mary, London 2009) sowie über die Theologie und Praxis der Eucharistie im späten Mittelalter (Corpus Christi: the Eucharist in late Medieval Culture, Cambridge 1991) hat sie selbst wichtige Beiträge zum Verständnis mittelalterlichen Religionskultur geliefert. Hier aber verzichtet sie darauf, die in den Einzelbeiträgen angesprochenen Facetten in einem eigenen Deutungsentwurf zusammenzuführen. Zwar wäre eine erschöpfende Auskunft über die Christentumspraxis in neun Jahrhunderten mittelalterlicher Geschichte zu viel verlangt. Aber es ist schade, dass die Einzelbeobachtungen zur Religionsgeschichte des Mittelalters in der vorliegenden Gestalt doch recht unverbunden nebeneinander stehen.
Der Wert dieses Buches erschließt sich vor allem im kirchengeschichtlichen Unterricht. Es eignet sich gut zur Einführung als begleitende Lektüre in Lehrveranstaltungen zur mittelalterlichen Religionspraxis und bietet reichlich Material, die Bandbreite religiöser Lebensdeutungen in ihrem Selbstzeugnis aufzusuchen. Der quellenorientierte Zugang eröffnet zudem die Möglichkeit zu eigenständigem methodischen Arbeiten, allerdings gibt es leider kein Verzeichnis der behandelten Quellen. Für Historiker, Religionswissenschaftler, Literaturwissenschaftler und insbesondere Theologen ist das Buch von großem Interesse und kann darum nachdrücklich zum Studium empfohlen werden.