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Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1297-1299

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Burke, Tony [Ed.]

Titel/Untertitel:

De infantia Iesu euangelium Thomae graece.

Verlag:

Turnhout: Brepols 2010. XXXIV, 593 S. gr.8° = Corpus Christianorum. Series Apocryphorum, 17. Geb. EUR 360,00. ISBN 978-2-503-53419-0.

Rezensent:

Ursula Ulrike Kaiser

Das sog. »Kindheitsevangelium des Thomas« konfrontiert heutige Rezipientinnen und Rezipienten mit einer verwirrenden Vielzahl von Versionen in verschiedenen Sprachen. Lange nicht alle Textzeugen sind publiziert, und die Textgeschichte der einzelnen Überlieferungsstränge liegt zum Teil noch im Dunkeln. Umso erfreulicher ist es, dass es nun endlich eine kritische Edition gibt, die sämtliche bekannten griechischen Textzeugen, auch die bislang unedierten, berücksichtigt, und dies umso mehr, als sie sorgsam gearbeitet ist und in der doppelten Präsentation der vier verschiedenen Textrezensionen (aufeinander folgend mit kritischem Apparat und englischer Übersetzung und außerdem in synoptischer Gegenüberstellung) ein hervorragendes Arbeitsmittel darstellt.
Der in Toronto lehrende Tony Burke präsentiert mit dieser Edition eine überarbeitete und vor allem im Bereich der Textedition erweiterte Version seiner Dissertation von 2001 (die nur online, nicht in Buchform zugänglich ist). Auffällig ist, dass weder die damalige Arbeit noch der vorliegende umfangreiche Band »De infantia Iesu euangelium Thomae« einen kritischen Blick auf den Titel »Evangelium« wirft, den immerhin keiner der griechischen Textzeugen belegt, der auch in der restlichen Überlieferung des Textes kaum existent ist, von B. aber durchgängig als Titel des Textes (vorwiegend in der aus dem Englischen abgeleiteten Abkürzung IGT = Infancy Gospel of Thomas) benutzt wird. Wie zutreffend und brauchbar diese aus der Forschungsgeschichte erwach­-sene Fremdbezeichnung des Textes ist, wäre also zumindest zu fragen, zumal die Untersuchung der Gattung von IGT einen breiteren Raum in den Untersuchungen B.s einnimmt (siehe unten). Angemessener wäre als Titel die Aufnahme der vermutlich ur­sprünglichen Bezeichnung der Schrift als paidika – Kindheitstaten. Dann wäre auch eine Verwechslung mit dem Thomasevangelium leichter vermeidbar und ebenso die daraus resultierende, die Forschung lange Zeit dominierende gnostische Deutung von IGT, die dieser Schrift auch nach der Klärung der fälschlichen Identifizierung mit dem erst durch den Handschriftenfund von Nag Hammadi 1945 als Text komplett verfügbar gewordenen Thomasevangelium noch erhalten blieb (vgl. B.s umfangreichen Forschungsüberblick in Teil I, Kapitel 2: 45–126). B. argumentiert zu Recht gegen ein solches Verständnis von IGT.
Wenn IGT aber keinen gnostisch zu deutenden Jesus schildert, diese ›Schublade‹ zur Erklärung der bleibenden Befremdlichkeit des Textes – vor allem hinsichtlich der Christologie – also ausfällt, stellt sich die Frage, wie dieser kleine, voller Wissen und Kraft steckende, jedoch oft aggressive und andere Menschen mehrfach verfluchende Jesus dann zu verstehen sei. Im fünften und letzten Kapitel des ersten Hauptteils, »Understanding the Infancy Gospel of Thomas« (223–289), widmet sich B. ausführlich dieser Problematik. Er greift hier, leicht umsortiert, im Kern aber wenig verändert, die schon in seiner Dissertation geäußerten Überlegungen zur prägenden Kraft der Kindheitsdarstellungen antiker Biographien auf, in denen es sich, kurz gesagt, um »idealized portrayals of children« (289 u. ö.) handele. Die Jesusdarstellung von IGT, die sich außerdem am Konzept des »Jewish Holy Man« (276 ff.) orientiere, zeige Jesus dementsprechend bereits als Kind mit »maturity and wisdom that belie his age« (285) und voller Hinweise auf seine späteren Charakterzüge (»with every word and deed an indication of his future greatness«; XI). Es ist unbestritten ein Verdienst B.s (neben H.-J. Klauck und R. Hock), auf diese Beziehungen zwischen IGT und der antiken Biographik hingewiesen zu haben. Ob Jesus in IGT aber tatsächlich gar nicht als Kind geschildert wird und in all seinen Handlungen »Reife« zeigt, fragt sich neben der Rezensentin (»Jesus als Kind«, in: Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen, hrsg. von J. Frey und J. Schröter, WUNT 254, 2010) auch R. Aasgaard in seiner 2009 erschienenen Untersuchung »The Childhood of Jesus«, dessen Thesen B. im Forschungsüberblick nur kurz zusammenfasst (123 f.), mit denen er sich inhaltlich aber leider nicht intensiver auseinandersetzt.
Ob das von B. angebotene Verständnis des kleinen Jesus in IGT also umfassend überzeugen kann, sei dahingestellt. Der vorliegende Band bietet vor allem für die griechische Textüberlieferung, aber auch für die anderen Überlieferungsstränge (vgl. Teil I, Ka­-pitel 3 und 4: 127–222) eine hervorragende Basis, sich den Text selbst zu erschließen und eine eigene Position zu gewinnen. B. bündelt seine Beobachtungen zur Textüberlieferung zuletzt in einem Stemma (das sich in stärkerem Maße von dem S. Gerös von 1971 und in einigen Punkten auch von jenem S. J. Voicus von 1998 unterscheidet) und bietet mit den ersten vier Kapiteln von Teil I seines Buches insgesamt einen sehr hilfreichen Einblick in die verworrene Textgeschichte und ihre ebenfalls nicht geradlinige Er­forschung, der gut auf die eigentliche Lektüre des Textes von IGT in seiner griechischen Überlieferung in Teil II vorbereitet.
Hier hat B. die vier Textrezensionen Gs, Ga, Gd und Gb jeweils separat ediert und ins Englische übersetzt. Die teilweise divergierenden Kapitelzählungen, die auf Umstellungen bzw. Zusätzen oder Kürzungen in der Textüberlieferung beruhen, sind möglichst transparent gehalten, indem in Klammern immer die in der Forschung dominierende Zählung nach der Langversion Ga hinzugefügt wird. Der Text von Ga selbst unterscheidet sich an vielen Stellen von der bislang für IGT einflussreichsten Edition C. v. Tischen­dorfs (Evangelia apocrypha, 1853; 2. Aufl. 1876), da B. weitere und bislang nicht edierte Textzeugen einbezieht; der kritische Apparat gibt darüber ausführlich Auskunft. So weist z. B. Kapitel 6 in B.s Edition von Ga nun einen längeren Redeabschnitt Jesu auf, der bislang nur aus den anderssprachigen Versionen und Gd in der Edition von A. Delatte (1927) bekannt war, tatsächlich aber ebenso in Ga zuzurechnenden Textzeugen belegt ist. Auch die Rezension Gd hat B. gegenüber Delattes Edition auf eine breitere Textbasis gestellt, kleinere Änderungen gibt es ebenfalls in Gb gegenüber Tischendorfs Ausgabe.
Entscheidender noch als diese Revision von Ga, Gd und Gb ist jedoch die Publikation der ältesten griechischen Rezension Gs nach Codex Sabaiticus 259 (Jerusalem, 11. Jh.), dessen Text B. als Erster überhaupt in seiner Dissertation ediert hatte (vgl. inzwischen auch die Edition von Aasgaard 2009) und der hier nun in Gegenüberstellung mit den anderen griechischen Rezensionen erscheint. Der englischen Übersetzung von Gs sind des Weiteren viele Anmerkungen beigegeben, die einen Einblick in den Textbestand der anderssprachigen Versionen geben, in den Übersetzungen zu den anderen Rezensionen und in der Synopse jedoch nicht nochmals erscheinen. Um Doppelungen zu vermeiden, ist dieses Vorgehen nachvollziehbar, zugleich verweist es die Lesenden auf subversive Weise unweigerlich auf Gs als die von B. am höchsten geschätzte Rezension, beruht sie doch auf dem ältesten erhaltenen griechischen Textzeugen von IGT (s. o.). Dennoch bleibt in Erinnerung zu halten, dass auch Gs eine jüngere Textstufe abbildet als manche der Versionen. Nicht zuletzt dieser Sachverhalt stellt eine bleibende Herausforderung für die Arbeit an IGT dar.
Für den Bereich der griechischen Überlieferung liegt nun aber ein Standardwerk vor, das für die Forschung der kommenden Jahre von hoher Bedeutung sein wird.