Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2011

Spalte:

1289-1291

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Tanner, Mathias, Müller, Felix, Mathwig, Frank, u. Wolfgang Lienemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Streit um das Minarett. Zusammenleben in der religiös pluralistischen Gesellschaft.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2009. 288 S. m. Abb. 8° = Beiträge zu einer Theologie der Religionen, 8. Kart. EUR 26,00. ISBN 978-3-290-17549-8.

Rezensent:

Henning Wrogemann

Der Sammelband widmet sich der aktuellen Debatte um die Volksabstimmung in der Schweiz hinsichtlich des Baus von Minaretten. Insgesamt handelt es sich – neben der Einleitung – um zehn Beiträge, die das Thema von verschiedenen Seiten beleuchten. Dabei wird dezidiert die Meinung vertreten, dass das Verbot des Baus von Minaretten »verfassungswidrig« ist (7).
Der Beitrag von Felix Müller und Mathias Tanner unter dem Titel »Muslime, Minarette und die Minarett-Initiative in der Schweiz: Grundlagen« (21–44) gibt zunächst einen Überblick zur Religionsstatistik der Schweiz sowie zu Herkunft und Organisationsstruktur der in der Schweiz lebenden Muslime, die derzeit etwa 4,3 % der Bevölkerung ausmachen. Sodann wird die Geschichte des Minarettbaus in der Schweiz sowie der seit 2007 laufenden »Minarett-Initiative« skizziert. Rifa´at Lenzin gibt unter »Eine muslimische Perspektive auf die Minarett Diskussion und das Zusam­menleben in der Schweiz von morgen« (45–60) unter anderem einen kurzen Überblick zur Entstehungsgeschichte der Bauform »Minarett«, es werden muslimische Reaktionen zur Minarett-Initiative aus verschiedenen Ländern, Medien, Organisationen und Kontexten angerissen.
Zu Recht fordert die Autorin, dass »die Dichotomie von WIR und SIE aufzubrechen (ist): ›Die Schweizer und die Muslime‹« (59), dementsprechend wäre dann auch – so kann man annehmen – das von ihr als vorbildlich (»Meilenstein«) angesehene Statement, die Grundsatzerklärung der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich aus dem Jahr 2005 zukünftig dahingehend zu überarbeiten, dass nicht mehr von »Diaspora« geredet würde, sondern von Schweizer Muslimen. Die Äußerungen allerdings, der Islam in der Schweiz genieße »keinerlei wie auch immer geartete offizielle Anerkennung« und befinde sich im »rechtlichen und rechtspolitischen Niemandsland« (53), ist – außer als durchaus verständliche Betroffenheitsbekundung – wenig hilfreich und in dieser Pauschalität unsachgemäß.
Der studierte Jurist Felix Müller behandelt unter »Rechtliche und politische Aspekte der eidgenössischen Volksinitiative ›Gegen den Bau von Minaretten‹« (61–86) Themen wie »Religionsfreiheit«, »Diskriminierungsverbot«, »Funktion und Haltung des Staates in Religionsfragen« sowie »Planungs- und Baurecht«, wobei er zu dem Schluss kommt, dass die Minarett-Initiative sowohl der Verfassung der Schweiz als auch dem Völkerrecht widerspreche (83). In ähnlicher Richtung argumentieren Andreas Kley und Alexander Schaer unter »Gewährleistet die Religionsfreiheit einen Anspruch auf Minarett und Gebetsruf?« (87–102). Die Autoren machen auf ein Grundproblem des Schweizer Rechtssystems aufmerksam, indem sie das Instrument Volksentscheid kritisch beleuchten. Da dies eine der Pointen des Buches ist, sei eine längere Passage zitiert:
»Die schweizerische Bundesverfassung weist mit ihrer bloss beschränkten Verfassungsgerichtsbarkeit und der ausgebauten direkten Demokratie … auf ein Problem hin, das die Sachlage verschärft. Die ursprüngliche Idee dieser be­schränkten Verfassungsgerichtsbarkeit lag darin, dass die demokratischen Entscheide, die sozusagen voraussetzungsgemäss immer gut sind, nicht noch einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterworfen werden. Die geltende Regelung schenkt also dem demokratischen Prinzip Vertrauen. Nun zeigt sich aber, dass die absolutistischen Begehren [der Vf. meint damit solche Volksbegehren, die auf eine innere Homogenität der Gesellschaft zielen und damit die von der Verfassung garantierten Grundrechte verletzen, H. W.] dieses Vertrauen strapazieren, denn es besteht die Gefahr, dass die Anliegen von Minderheiten (Kriminelle, Einwanderer) systematisch beschränkt werden und zwar viel mehr, als es für die Regelung der öffentlichen Ordnung nötig ist. Diesen schädlichen Begehren vermögen weder die Grundrechte der Bundesverfassung noch jene der internationalen Abkommen zum Schutze der Menschenrechte einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Denn solche Begehren dürfen nur dann als ungültig erklärt werden, wenn sie dem zwingenden Völkerrecht widersprechen (Art 139 Abs. 3 alt BV). Die Glaubens- und Gewissensfreiheit gehört nicht dazu, was bedeutet, dass man die Annahme solcher Be­gehren riskieren muss.« (97–98)
Die Beiträge von Samuel M. Behloul unter »Minarett-Initiative. Im Spannungsfeld zwischen Abwehr-Reflex und impliziter Anerkennung neuer gesellschaftlicher Fakten« (103–122) und Wolfgang Lienemann »Argumente für ein Minarett-Verbot? Eine kritische Analyse« (123–140) gehen verschiedenen Wahrnehmungsmustern und argumentativen Begründungszusammenhängen in den öffentlichen Debatten nach. Frank Mathwig behandelt unter »Das Kreuz mit den Minaretten. Theologische Bemerkungen zur Rolle der Kirchen in der Minarett-Diskussion« (141–188) die Rolle der kirchlichen Äußerungen zur Thematik. Er zeigt auf, dass die Schweizer Kirchen in ihren öffentlichen Stellungnahmen sich durchgehend gegen die Minarett-Initiative ausgesprochen haben. Im Blick auf das unter ihren Mitgliedern vertretene breite Meinungsspektrum waren Kirchen und Gemeinden darum bemüht, diesem Spektrum Rechnung zu tragen (149). Wolf-Dietrich Bukow bietet vergleichenden Perspektiven zur öffentlichen Debattenkultur aus dem bundesdeutschen Bereich: »Verständigung über ein religiös-pluralistisches Zusammenleben am Beispiel des Moscheebaus an Rhein und Ruhr« (189–224). Mathias Tanner fragt unter »Minarett-Konflikte – Untersuchung ihrer Hintergründe und der Möglichkeiten von Mediation zu ihrer Bearbeitung« (225–254) nach Möglichkeiten der Bearbeitung von Konflikten. Walter Kälin und Judith Wyttenbach beschließen den Band mit dem Beitrag »Religiöse Freiheit und ihre Grenzen in der Einwanderungsgesellschaft« (255–286).
Insgesamt handelt es sich um einen sehr informativen Band, der die Thematik gleichermaßen aus juristischer, gesellschaftspolitischer und religionskundlicher Perspektive in den Blick nimmt. Wünschenswert wäre es sicher gewesen, der Thematik des Gebetsrufes und seiner medialen Verstärkung durch Lautsprecher noch mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, ebenso den Deutungen dieser religiösen Praktiken und Symboliken durch muslimische Akteure verschiedener Richtungen.