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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1222-1225

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dürr, Oliver

Titel/Untertitel:

Der Engel Mächte. Systematisch-theologische Un­tersuchung: Angelologie.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 326 S. gr.8° = Forum Systematik, 35. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-020854-4.

Rezensent:

Walter Sparn

Diese bei Christian Link angefertigte Dissertation von Oliver Dürr will den nach wie vor tief in der christlichen Frömmigkeit verankerten Glauben an gute (und böse) Engel normativ reflektieren – eine angesichts der aktuellen Flut von dubiosen Engel-Devotionalien verdienstliche Absicht. D. realisiert sie im Blick auf die Ge­schichte der theologischen Angelologie bis ins 19. Jh. (I: 11–111), die Neubesinnung des 20. Jh.s (II: 113–209) und im Blick auf eine systematische Neuorientierung heute (III: 213–295).
I.1 setzt mit einer Problemanzeige ein, die an Melanchthon (!) anschließend die traditionellen Fragen aufnimmt: die nach der Seinsbeschaffenheit von Engeln, ihrem Zusammenhang mit Gut und Böse und nach ihrer Funktion im Heilsplan Gottes (11 ff.). I.2 und I.3 befragen die exegetische Literatur auf die Entwicklung einer stringenten Lehre von Engeln und Dämonen im israelitischen Raum (16 ff.), notieren die Gefährdung des Monotheismus in den alttestamentlichen, jüdisch-hellenistischen sowie neutestamentlichen Vorstellungen (32 ff.) und ihre »Behebung« durch pa­-tris­tische Autoren (43 ff.). Ob das eine »systematische Eingliederung der Engel« (48 ff.) ergibt? Im Anschluss an G. Tavard werden die »höheren Angelologien« von Origenes, Dionysius, Augustin und Thomas nach den oben genanten drei Aspekten dargestellt (54 ff.).
Nachdem D. sich die angelologische Topik erarbeitet hat, stellt er in I.4 im Gefolge von U. Mann und M. Plathow die reformatorischen Ansätze dar: schöpfungstheologische Bejahung des Seins von Engeln und ihrer Bedeutung für Menschen, Ablehnung ihrer soteriologischen und ekklesiologischen (hierarchischen) Rolle (73 ff.). Ihre nun »ausschließliche Zugehörigkeit zu Gott« erfordert, Distanz von der dogmatischen und metaphysischen Tradition zu suchen; für Letz­-teres ist Kant das Exempel (86 ff.). Korrekt, aber umständlich stellt I.4.3 f. »Kritik und Konstruktionsversuche« im 19. Jh. dar, die den Engeln teils eine Eigenständigkeit als geistige, sittlich entwick­lungsfähige Wesen, teils nur eine dogmatische Randexistenz zubilligen, teils ganz auf sie verzichten (Schleiermacher, Twesten, Bretschneider, Rothe, Strauß; auch Häring, Elert, 89ff.).
Die Neubesinnung im 20. Jh. (Teil II) modifiziert die drei angelologischen Fragestellungen durch die Grundsatzentscheidung, entweder eine nur »symbolische Relevanz« oder aber eine »Wirkungsrelevanz« der guten und der bösen Engel anzunehmen (115ff., mit H. H. Wendt, P. Althaus). Ein Vergleich zwischen Althaus und K. Heim bestätigt die von Chr. Link notierte dualistische Gefährdung der Rede vom Satan (129 ff.); D. meint aber, dass die »analoge Struktur« menschlichen Handelns nicht aufgehoben werde, wenn man die »Verwobenheit« göttlicher, satanischer und menschlicher Kräfte zugibt. »Wirkungsrelevanz übermenschlicher Mächte« schließe das heutige Weltbild nicht aus; die »gute oder schlechte Engelwirklichkeit« gehöre in den Kontext des Heilswerkes Christi (138 f.).
Worin die symbolische Relevanz von Engels- und Teufelsvorstellungen bestehen kann, prüft II.2 für die ontologische (P. Tillich), die psychische (C. G. Jung, E. Drewermann) und die soziale Wirklichkeit (A. Ritschl, D. Lange u. a.) – es kommt über »Randposition« nicht hinaus (140 ff.). Die römisch-katholische (personalistisch-ontologische) Wiederannäherung an die klassische Angelologie bleibt in die Mariologie verflochten; die phänomenologische (E. Brunner, W. Trillhaas) berücksichtigt den kosmologischen Erfahrungsbereich zu wenig (II.3, 158 ff.). D. sammelt daher Hinweise auf den Zusammenhang von Kosmos und Wirkungsrelevanz der Engel (W. Pannenberg, M. Welker, 176 ff.) und skizziert mit Th. Ruster eine »Himmelslehre«, die den Himmel als Teil der Welt beschreibt, als Gemeinsames von unbestimmbarem und bestimmbarem Erfahrungsbereich, ihn also nicht mit Gott selbst verwechselt, aber eine Art »Himmelsgläubigkeit« rechtfertigt (182 ff.). II.5 referiert Engel- und Mächtevorstellungen anderer Religionen (200 ff.) – allenfalls eine »Problemanzeige«.
Die »Engelferne des späten Menschen« vor Augen (211 f.), sucht Teil III die Engel also im Himmel, beginnend mit der Darstellung der »Angelologie der Gotteszugehörigkeit« bei K. Barth, verstanden als »zentrales Offenbarungswissen über Gott und Welt« (III.2, 213 ff.). D. stellt heraus, dass die Sicherung der Rede von Engeln durch die theozentrische Bestimmung ihrer Funktion an die Stelle der dionysischen Lichtmetaphysik die göttliche Bewegung des Himmelreiches setzt und Engel deshalb als seiend annehmen darf. Wie W. Pannenberg kritisiert er die Verschiebung der gefallenen Engel ins böse »Nichtige« als eine nur halbe Lösung des Dualismus-Problems (220 ff.) und schlägt mit R. Hanhart eine komplementäre Beschreibung der Engel als Mächte (phänomenologisch), als Engel Gottes (interpretatorisch) und als Boten (vergegenwärtigend) vor; auf den ersten beiden Ebenen können auch Dämonen erfasst werden (225 ff.).
Dies und überhaupt die Verknüpfung von Angelologie und Himmelslehre impliziert freilich eine gegenüber Barth veränderte Konzeption des Himmelreiches; sie wird in III.3 im Gefolge Th. Rusters und in Auseinandersetzung mit N. Luhmann dargelegt (228 ff.). Doch will D. die Angelologie nicht einfach systemtheoretisch übersetzen, sondern meint, in trinitarischer Korrektur Barths (mit J. Moltmann), dass die Herrschaft Gottes mit den guten Mächten und die Beherrschung der bösen als gefallene Mächte die biblische Vergegenwärtigungsebene der Rede von Engeln darstellt und auch eine Funktionsbestimmung der bösen Mächte erlaubt: die Kenntlichmachung des Zorns im Dienst des Liebeswillens Gottes (234 ff.). Die Frage, ob die Engelmächte, verstanden als autopoietische soziale Systeme, überhaupt in Sünde fallen, d. h. sich destruktiv autonomisieren können, ließe sich angesichts der Interpenetration von sozialen und psychischen Systemen (Menschen) positiv wie negativ beantworten; D. will jedoch die »suprasystemtheoretische« Option offen lassen, dass Mächte von sich aus sündig sein können (237 ff.).
Zunächst expliziert III.4 als Pointe der systemtheoretisch rekonstruierten Angelologie (auch rekurrierend auf K. Heim), dass die Annahme der Wirkungsrelevanz der Engel auf das soziale, die ihrer symbolischen Relevanz auf das psychische System blickt; es sind komplementäre Perspektiven (242 ff.). Die Geschichte ist das Begegnungsfeld der psychischen, sozialen und kosmischen Mächte, und um die guten (schöpfungs- und bundesgemäßen) und die bösen zu unterscheiden, bedarf es einer göttlichen Kraft, die geschichtliche Wirklichkeit ist: Jesus Christus (247 ff.). Dementsprechend votiert D. gegen Th. Rusters Unterscheidung zwischen dem Willen und dem Un-Willen Gottes anhand des autopoietischen Tora-Systems (und ihrer analogen Konstruktion von Engeln und bösen Mächten) und für K. Barths »christologische Codierung des Erlaubten aus dem kommenden Reich Gottes und seiner ereignishaft begonnen habenden Herrschaft in Christo« (250 ff., Zit. 256).
Die jedoch über Ruster und Barth hinausgehende, an K. Berger anschließende Pointe D.s expliziert III.5 in Beantwortung der Frage, worin das Mehr der Engel über soziale Systeme hinaus, ihre »Himmelswesenheit« besteht: Es ist ihre Entscheidung gegen (!) ihren Auftrag der Bewahrung der (Gottes Hoheit entsprechenden) Ordnung von erlaubt/unerlaubt für die (diese Ordnung überspringende) Liebe, für das (soziale Systeme sprengende) rechtfertigende Handeln Gottes. Der Übergang von tora- oder sonstwie codierten zu »christus­codierten Systemen« erlaubt und erfordert die mythische, also projektive Rede von der Personalität der Engel (262 ff.). Die aus ihrer relationalen und kommunikativen Funktion abzuleitende »angelehnte Personalität« (Th. Zeilinger) ist nicht systemtheoretisch einholbar; auch die naturrechtliche Bestimmung von Engeln (Luther!) oder die Annahme von Zwischenwesen höherer Subjektivität (K. Rahner) lassen das ›unordentliche‹ Einstimmen der Engel in das Versöhnungswerk Christi (was sie von allen andern Mächten unterscheidet) und ihre Einbindung in die eschatologische Herrschaftsbewegung Gottes nicht transparent werden (270 ff.). Eine wirklich christologische Angelologie ist K. Barths Verdienst (278 ff.).
III.6 spricht jedoch deutlich aus (281.292.294), dass es erst die Verbindung der Platzierung der Engel in der Herrschaftsbewegung der Liebe Gottes mit ihrem systemtheoretischen Verständnis als eigenständige Systeme im »Himmel« ist, die eine christliche Alternative darstellt zur ambivalenten (Kommunikation aber auch Selbstverabsolutierung erlaubenden) ontologischen Sicherung der Rede von Engeln (das wird mit dem Kommunikationstheoretiker D. B. Linke nochmals durchgespielt, 290 ff.) und die Barths Abspaltung der bösen Mächte ins »Nichtige« unnötig macht. D. pointiert den systemtheoretischen Beitrag dadurch, dass er, leider auch mit dem Unwort »Re-entryiteration« (G. Thomas), die Engel als eine der drei biblischen Wiederholungen der Unterscheidung zwischen Himmel und Erde auf der Erde, d. h. der Selbstverendlichungen der Macht Gottes bestimmt. Engel sind in symbolisch-personaler Rede aufgefasste, zeitlich begrenzte Machtkonkretionen, die der dauerhaften immanenten Selbstimplikation Gottes in der Christusperson zu- und untergeordnet sind. Geschichtlich erfahrbare Mächte sind Engel Christi, wenn sie dies auf der interpretatorischen Ebene und auf der Verheißungsebene sind – Aufgabe christlicher Geschichtstheologie (287 f.)! Engel müssen damit »auch Abschied nehmen … von der Ordnungssicherheit, für die sie hierarchisiert sind, zugunsten der neuen Botschaft der Rechtfertigung des Sünders als Liebeswerk Gottes in Christo« (293).
Der Teil III ist zweifellos ein sehr anregendes, aber auch anfechtbares Stück Weg zu einer neuen Angelologie. Letzteres, weil D. große Mühe hat, die ziemlich vollständig angeführten Mitdiskutanten (selbst G. Agamben kommt zu Wort) in einen sprachlich klaren und argumentativ linearen Diskurs zu integrieren. Ob der genealogische Weg von Teil I zu Teil III nützlich oder auch nur nötig war, lässt sich hinterher bezweifeln, zumal die dort ebenfalls sehr zahlreichen Autoren, zum Teil nur sekundär zitiert, in ihrer Historizität nicht sonderlich respektiert werden, da diese nur als dogmatische Differenz aufscheint oder in dogmatischer Zustimmung untergeht; hermeneutisch allzu umstandslos montiert D. Texte unterschiedlicher Herkunft und Dignität. Zu beklagen ist, dass der Blick auf nicht theorieförmige Präsenzen von Engeln ausfällt; das ist für die bildende Kunst verständlich (15, Anm. 12), kaum aber für die Liturgie, die gerade zwei Mal berührt wird (173.295).
Leider wird die Lektüre des ohnedies gedrängten Textes sehr erschwert durch den irritierend schlechten Stil. Die Liebe zum sächsischen Genitiv ist kein Ausgleich für eine holprige, nicht selten grammatikalisch falsche und fast durchgehend gestelzte Sprache à la »geschieht diese Einklangsuche«, »Distanznahme wird getätigt« usw. Für welche Leser sind die ausufernden, oft mit Spiegelstrichen markierten Untergliederungen gedacht? Orthographische Mängel, vor allem in lateinischen Zitaten, kommen hinzu; die Literaturliste mutet einem krasse Ignoranzen zu. Der Diskussion würdig ist diese Dissertation aber allemal.