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Ausgabe: | November/2011 |
Spalte: | 1181-1183 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Kreinecker, Christina M. |
Titel/Untertitel: | 2. Thessaloniker. M. einem Beitrag v. G. Schwab. |
Verlag: | Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 240 S. gr.8° = Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament, 3. Lw. EUR 49,95. ISBN 978-3-525-51006-3. |
Rezensent: | Karl-Wilhelm Niebuhr |
In der Reihe »Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament« hat Christina Kreinecker den dritten Band vorgelegt; für 2011 angekündigt ist der Kommentar zum 2Kor von Peter Arzt-Grabner, dem Leiter des Projekts, und Ruth Elisabeth Kritzer (zu den bereits erschienenen Bänden vgl. ThLZ 130 [2005], 160–162 [J. Chapa]; ThLZ 132 [2007], 1186–1189). Vorangestellt ist dem vorliegenden Band nach Verzeichnissen von Textausgaben, Hilfsmitteln und Sekundärliteratur ein Kapitel »Ergänzendes zur Methodik des Kommentarwerks« (19–31), das eigens den Vergleichswert lateinischer Papyri beleuchtet. Im Vergleich mit den griechischen lassen sich an ihnen, obwohl außerhalb Ägyptens entstanden, doch »terminologische Gemeinsamkeiten und damit einhergehend eine gemeinsame Denkart und ein gemeinsamer Verstehenshorizont feststellen« (19). Trotz der im Vergleich zu den griechischen Papyri weit geringeren Anzahl kommt ihnen daher insofern Gewicht zu, als sie belegen, dass »das Imperium Romanum als ein Konglomerat von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Sprachen … eine starke Einheitlichkeit nach innen aufgewiesen hat« (31).
Dem eigentlichen Kommentar vorgeschaltet ist im vorliegenden Band noch eine rund ein Drittel des Gesamtumfangs einnehmende »Einleitung« (33–99). Sie beschäftigt sich (nach kurzen Vorbemerkungen zum Umgang mit den Papyri und zur Gliederung des 2Thess) vor allem mit der Frage nach dem Autor des 2Thess und unternimmt den Versuch, aus der Heranziehung der Papyri neue Argumente für den Nachweis der Pseudepigraphie des Briefes zu gewinnen. Den Ausgangspunkt dafür bildet eine Untersuchung von Günther Schwab zu Stileigentümlichkeiten als Identitätsmerkmalen in Papyrusbriefen (39–60). Hier soll anhand antiker Papyrusarchive gezeigt werden, dass in nachweislich von einem Autor stammenden Briefen auch ein persönlicher Stil dieses Autors erkennbar ist, der sich vor allem an den Briefeingängen und -schlüssen aufweisen lässt. Freilich fällt das Resümee dieser für sich betrachtet durchaus interessanten Erhebungen doch eher dürftig aus: »Zumindest ansatzweise demonstrieren und bestätigen die dargelegten Beobachtungen, dass auch in antiken Alltagsprivatbriefen prinzipiell mit einem Personalstil gerechnet werden muss.« (60) Schon angesichts der Textumfänge der verglichenen Einzelbriefe (die Papyri machen jeweils nur einen Bruchteil des auch schon recht kurzen 2Thess aus!) ist der Gewinn für die zur Debatte stehende Frage der Autorschaft des 2Thess wohl begrenzt.
Die Funktion dieser Untersuchungen für die Argumentationsstrategie der Vfn. wird freilich umso deutlicher: Mit ihrer Hilfe soll die Basis für ihre These gelegt werden, dass der 2Thess als Ergebnis gezielter Nachahmung des 1Thess (bzw. überhaupt eines paulinischen Briefes) mit täuschender Absicht anzusehen sei: »An den Eingangs- und Schlussgrüßen wird somit eine Fälschung entweder eindeutig oder gar nicht nachzuweisen sein« (61). Im Folgenden vergleicht die Vfn. zunächst die paulinischen Selbstaussagen im Präskript des 2Thess mit denen anderer Paulusbriefe, sodann aber auch weitere sprachliche Eigenheiten (rechtliche Termini, amtliche Termini, Übertragungen von Herrschaftsbezeichnungen auf Gott) sowie das Briefformular. Dann werden noch einzelne Formulierungen im 2Thess detailliert untersucht, vor allem Ausdrücke für das Bitten ( ἐρωτάω, παρακαλέω, παραγγέλλω), und mit den Befunden in den Papyri einerseits und den sog. »unbestrittenen Paulusbriefen« (Röm, 1/2Kor, Gal, Phil, 1Thess, Phlm) andererseits verglichen. Mit diesen Untersuchungen möchte die Vfn. wahrscheinlich machen, »dass der Verfasser des 2Thess bewusst bemüht war, paulinische Gedanken und Formulierungen zu übernehmen oder nachzuahmen und als genuin paulinisch zu präsentieren. … Die Vielzahl an Beobachtungen, die für den 2Thess durchgehend eine Abweichung sowohl von den unbestrittenen Paulusbriefen als auch von den Papyri aufweisen, legt die Vermutung nahe, dass der Verfasser des 2Thess bei seinem Bemühen, den Individualstil des Paulus nachzuahmen, übersehen hat, dass vieles von diesem Individualstil und den Eigenheiten der unbestrittenen Paulusbriefe durchaus innerhalb der Konventionen der damaligen Briefliteratur und -kultur liegt.« (96)
Man soll also annehmen, dass der tatsächliche Autor des 2Thess zum einen die »echten« Paulusbriefe so gut kannte, dass er versuchen konnte, ihren persönlichen Briefstil gezielt mit täuschender Absicht nachzuahmen, dass er aber andererseits dabei hinsichtlich der papyrologischen Konventionen seiner Zeit so ungeschickt verfahren ist, dass man seine Unfähigkeit sogar heute noch nachweisen kann. Das scheint mir zu viel an Zuversicht in die Aussagekraft antiker Alltagspapyri, zumal die Frage, wie denn ein solches literarisches (Un-)Kunstprodukt von seinen Rezipienten aufgenommen worden sein mag, die ja immerhin irgendwie und irgendwann vor Ende des 1. Jh.s dafür gesorgt haben müssen, dass es als Paulusbrief in die Briefsammlung des Apostels aufgenommen worden ist und seinen Platz dort ohne erkennbare Zweifel bis ins 19. Jh. bewahren konnte, nicht einmal gestellt wird.
Der Kommentarteil (101–220) bietet wieder reiches Vergleichsmaterial aus den Papyri, vorwiegend zu semantischen Problemen, darüber hinaus aber auch zur Funktion von Ausdrücken oder Wendungen in nichtliterarischen Texten, das die Formulierungen des 2Thess im Einzelnen erhellen und zum besseren Gesamtverständnis des Briefes beitragen kann. Der Horizont dieser Kommentierungen ist keineswegs auf die Papyri beschränkt, sondern geht oft von traditionsgeschichtlichen Hintergründen der Formulierungen des Briefes im Frühjudentum und in der hellenistisch-römischen Umwelt aus, in deren Rahmen dann die spezifischen Konnotationen aus den Papyri eingeordnet und näher diskutiert werden. Eine Reihe von Exkursen zu einzelnen Wortfeldern oder Formulierungen ist an Ort und Stelle eingeschoben. Die herangezogenen Papyri werden entweder summarisch inhaltlich charakterisiert oder auszugsweise in deutscher Übersetzung wiedergegeben, die wichtigsten Formulierungen auch in Griechisch; zahlreiche weitere nicht zitierte oder summarisch wiedergegebene Papyri werden wenigstens als Belegstellen und mit Datierung nachgewiesen.
Insgesamt vermittelt auch dieser Kommentar – wie schon die vorangehenden – dem Ausleger reichen Gewinn und führt die Lebensnähe der im Neuen Testament überlieferten Briefe des Paulus in ihrem antiken Kontext plastisch vor Augen. Bei den zu erwartenden weiteren Bänden der PKNT wird sich zunehmend die Frage stellen, in welcher Weise wiederholt vorkommende sprachliche Befunde in den Kommentaren erfasst werden sollen. Schon jetzt zeigt sich das Problem etwa bei der Kommentierung von Briefpräskript und Briefeingang (107–111). Nicht jedes Mal wird es sinnvoll sein, die Briefeingänge der Paulusbriefe erneut mit denen überlieferter Papyrusbriefe zu vergleichen, wenngleich in dem vorliegenden Band die Darlegungen durch die spezifische Problematik des Verhältnisses zwischen 2Thess und 1Thess gerechtfertigt sind. Ein leicht erkennbares und nachvollziehbares System von Querverweisen dürfte notwendig werden, kann aber eigentlich erst funktionieren, wenn eine genügende Anzahl von Bänden vorliegt. Eine Alternative böte die Ausgliederung von wiederholt in den neutestamentlichen Schriften (oder wenigstens in der Briefliteratur) vorkommenden Phänomenen in zusammenfassende Exkurse, was natürlich voraussetzt, dass vorab von der Projektleitung eine entsprechende Zusammenstellung solcher Phänomene vorgenommen wird. Dies sind freilich methodische und strukturelle Probleme, die sich bei jedem sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Kommentarprojekt zum Neuen Testament stellen. Der Charme und möglicherweise auch das Erfolgsgeheimnis der PKNT könnten gerade darin liegen, dass man sich nicht schon vorab in zu viele Grundsatzfragen verstrickt, sondern erst einmal damit begonnen hat, Teilergebnisse vorzulegen und zur Diskussion zu stellen. Nicht zuletzt dadurch gehört das von Peter Arzt-Grabner in Angriff genommene Großprojekt zu den anregendsten Vorhaben der aktuellen deutschsprachigen Exegese des Neuen Testaments.