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Ausgabe:

November/2011

Spalte:

1167-1169

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Decorzant, Alain

Titel/Untertitel:

Vom Gericht zum Erbarmen. Text und Theologie von Micha 6–7. Würzburg: Echter 2010. 263 S. gr.8° = Forschung zur Bibel, 123. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-429-03319-4.

Rezensent:

Aaron Schart

Das Buch von Alain Decorzant stellt eine von Georg Fischer SJ betreute Dissertation an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck dar, die im Jahre 2009 angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet wurde. Die Arbeit beginnt nach einer kurzen Einführung (11) mit einer kommentierten Übersetzung der Kapitel Mi 6–7 (12–32). Dabei wird der Text in Äußerungseinheiten unterteilt, das sind Sätze oder satzwertige Aussagen, die sich oft, aber eben nicht immer mit der poetischen Zeilengliederung des Textes decken, so dass Letztere in der Übersetzung nicht immer sichtbar wird.
Im zweiten Kapitel »Einordnung von Mi 6–7 in das Buch« (33–51) bietet der Vf. zunächst (2.1) eine Gliederung des gesamten Micha­buches und erörtert dann (2.2) die verschiedenen Möglichkeiten, dessen Makrostruktur zu beschreiben. Der Vf. schließt sich denen an, die die Abfolge von Unheils- und Heilspassagen für wesentlich halten und daraus die Dreiteilung Mi 1–2; 3–5; 6–7 ableiten. Schließlich (2.3) behandelt der Vf. die Abgrenzung von Mi 6–7 zu den vorherigen Kapiteln und den Aufbau der beiden Schlusskapitel in sich. Die oft notierte thematische und gattungsmäßige Disparatheit der verschiedenen Abschnitte wird auch vom Vf. klar herausgestellt.
Im dritten Kapitel »Analyse von Mi 6« (52–121) und im vierten »Analyse von Mi 7« (122–205) kommentiert der Vf. den Bibeltext Vers für Vers. Vor allem achtet er dabei auf Wortwiederholungen innerhalb der Michaschrift und auf intertextuelle Bezüge zu anderen Textpassagen. Gelegentlich werden knappe Exkurse zu sprachlichen, geschichtlichen und literarischen Themen eingefügt. An inhaltlich besonders gewichtigen Stellen schiebt der Vf. auch biblisch-theologische Reflexionen ein, etwa bei der Behandlung der berühmten Stelle Mi 6,8, wo das vom Menschen geforderte Handeln schlagwortartig zusammengefasst wird: »Recht üben, Treue lieben, demütig gehen mit Gott«. Der Vers stehe, obwohl im Kontext auf die im Pentateuch dargestellte Heilsgeschichte dezidiert Bezug genommen wird, »einer priesterlich-kultischen Sühnetheologie distanziert gegenüber« und betone stattdessen den »Verinnerlichungsprozess« und die »Weggemeinschaft« mit Gott (94).
Das fünfte Kapitel »Erträge« fasst die wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit zusammen. Unter Teil 5 dieses Kapitels (216–228) geht der Vf. auf die »Verbindungen mit dem Zwölfprophetenbuch« ein. Anspielungen auf Texte und Vorstellungen aus der Hoseaschrift findet er, wie andere schon vor ihm, z. B. darin, dass in Mi 6,2 wie in Hos 4,1 und 12,3 der Prozess (rîb) YHWHs mit seinem Volk Israel erwähnt ist und dass die Passage Mi 7,18–20 mehrfach Formulierungen aus Hosea aufgreift; so stamme die Formulierung »Gefallen an Treue haben« in Mi 7,18 aus Hos 6,6, die ungewöhnliche Reihenfolge von Beständigkeit (’ӕmӕt) und Treue (ḥӕsӕd) in Mi 7,20 aus Hos 4,1, Mi 7,19 greife die Rede vom Vergeben der Schuld in Hos 14,3 auf, Mi 7,19 und Hos 14,5 verwendeten das Verb »erbarmen« (rḥm). Diese Bezüge seien so zu deuten, »dass die Menschen am Ende von Mi eine größere Vertrautheit mit Jhwh im Vergleich zur Situation des Volkes in Hos haben.« (218) Das Bekenntnis, das in Hos 14,3–4 die prophetische Stimme dem Volk Israel vorspricht, werde nun vom Volk als Ausdruck der eigenen Hoffnung aufgenommen und nachgesprochen. So ende sachgemäß der erste Hauptteil des Zwölfprophetenbuchs. In Mi 6,6–8 würden dagegen besonders Begriffe aus Am 5 aufgenommen. So würde deutlich gemacht, warum Mi 6,8 behaupten kann, dass es dem Menschen bereits gesagt sei, was YHWH fordert: Mi 6,8 setze die Verkündigung des Amos voraus, bringe diese lediglich »auf den Punkt« (221). Ausführlich kommt der Vf. auch auf die schon vielfach gesehenen Berührungen zwischen Mi 7,18–20, Nah 1,1–8 und der Gnadenformel aus Ex 34,6 f. zu sprechen: »Mi 7,18–20 begründet damit die Vergebungsbereitschaft Jhwhs, und Nah 1,2 das göttliche Gericht über seine Feinde.«(225) Beides zusammen ergebe erst ein umfassendes Bild vom Wesen YHWHs. Auch auf die Gnadenformel in Num 14,18 werde angespielt, da in Num 14,17 wie in Nah 1,3 auch die Größe und Kraft YHWHs erwähnt werden.
Der Vf. streift noch »Aspekte der Wirkungsgeschichte« (230–233) und behandelt abschließend »Mi 6 f. aus pastoraler Sicht« (5.7, 234–238). Die pastorale Sicht besteht darin, dass nach den Intentionen gefragt wird, die auch für heutiges theologisches Nachdenken noch relevant sind: Obwohl das Bild von einem strafenden Gott heutzutage zunächst befremdlich erscheinen mag, bringe die Rede von göttlicher Strafe letztlich die Zuversicht zum Ausdruck, dass Gott das Böse aus der Welt schaffe, um die Beziehung mit Israel wie­derherzustellen. Die Anrufung der Natur als Zeuge (Mi 6,1) mache deutlich, dass »die Gottesbeziehung sich schwer vom Umgang mit dem unmittelbaren Umfeld und der Umwelt abkoppeln« lasse (237). Die Aufdeckung von Missständen im Handel (Mi 6,10–12) könne auch als »Herausforderung in der heutigen Diskussion um den Platz der Religion in der Gesellschaft« dienen (238). In den Anhängen findet sich eine übersichtliche Zusammenfassung der Arbeit in 20 Thesen (239–241).
Die Arbeit trägt, während sie die Kapitel Mi 6–7 Vers für Vers abschreitet, viele Beobachtungen zusammen. Das Gewicht liegt dabei eindeutig auf der Suche nach lexikalischen Querverbindungen zu anderen Texten. In diesem Bereich werden interessante neue Beobachtungen beigesteuert und es wird auf neuere Entwick­lungen eingegangen, wie z. B. die Suche nach dem Sinn von lexi­-kalischen Bezügen zwischen den verschiedenen Schriften für das Verständnis des Zwölfprophetenbuchs als Ganzem. Eine Klassifizierung oder Typisierung der Bezüge erfolgt nicht, so dass kein differenziertes Bild von der intertextuellen Verwobenheit der einzelnen Passagen entsteht. Konsequent vermeidet der Vf. jegliche Frage nach der Abhängigkeitsrichtung der Bezüge, ebenso wenig äußert er sich zu Fragen der Literarkritik. Für Leserinnen und Leser, die, wie der Rezensent, gerade dieses interessiert, ist das Buch von eher begrenztem Wert. Am ehesten ist es denjenigen zu empfehlen, die Freude am Entdecken von intertextuellen Anspielungen innerhalb der Bibel haben. Dieser Leserkreis mag es allerdings mög­-licherweise bedauern, dass sich der Vf. mit Spekulationen darüber, welche Sinnnuancen die Anspielungen in die Interpretation der Michatexte einbringen, vielfach zurückhält und es bei knappen Andeutungen belässt.