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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1093-1095

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rawls, John

Titel/Untertitel:

Über Sünde, Glaube und Religion. Hrsg. v. Th. Nagel. M. Kommentaren v. J. Cohen, Th. Nagel u. R. M. Adams. M. e. Nachwort v. J. Habermas. Aus d. Amerikanischen v. S. Schwark.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp 2010. 344 S. 8°. Geb. EUR 26,90. ISBN 978-3-518-58545-0.

Rezensent:

Christoph Seibert

Die Debatte um das Werk des im Jahre 2002 verstorbenen Philosophen John Rawls geht weiter. Sie weist seit dem Erscheinen des Hauptwerks A Theory of Justice ein strukturierendes Zentrum auf, nämlich die von R. selbst in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellte Frage nach den Bedingungen einer wohlgeordneten, demokratischen Gesellschaft. In den letzten Jahren ist dabei die Verhältnisbestimmung zwischen politischem Liberalismus und weltanschaulich-religiösen Lebensorientierungen in den Vordergrund ge­treten. Im Zusammenhang der kontroversen Diskussion seiner diesbezüglichen Thesen hat es R. allerdings bis zuletzt vermieden, seine eigene religiöse Position explizit zu machen. Vor diesem Hintergrund eröffnen die jetzt veröffentlichten Texte Einblicke in Hintergründe der rawlsschen Gerechtigkeitstheorie, die bislang noch nicht in dieser Deutlichkeit erschlossen werden konnten.
Es sind zwei Texte, die in diesem reichhaltig kommentierten Band der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Der erste besteht aus der Abschlussarbeit, die der damals 21-jährige Autor kurz vor dem Ende seines Bachelorstudiums im Jahre 1942 am Philosophischen Department in Princeton eingereicht hat. Sie trägt den Titel Eine kurze Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube: Eine Auslegung anhand des Begriffs der Gemeinschaft. Der zweite und sehr viel kürzere Text Über meine Religion entstammt einer im Jahre 1997 angelegten Datei, die man auf R.s Computer fand. In ihm reflektiert er in groben Zügen seine religiöse Entwicklung seit jener Abschlussarbeit und präsentiert sich als eine Person, die von den religiösen Vorstellungen des 21-jährigen Studenten Abstand genommen hat.
In seiner Abschlussarbeit will R. die Rekonstruktion der Theologie weiterbringen, und zwar mit Begriffen wie Gemeinschaft und Personalität (131). Damit ist zugleich die Frontstellung angezeigt, welche die gesamte Arbeit bestimmt: R. grenzt sich gegenüber einer Weltsicht ab, die er als Naturalismus bezeichnet. Was darunter verstanden wird, darf allerdings nicht mit herkömmlichen Verständnissen von Naturalismus als Materialismus oder als naiver Empirismus verwechselt werden. Unter Naturalismus wird vielmehr eine »Sichtweise« verstanden, »die den Kosmos in natürlichen Begriffen rekonstruiert« (146). Natürliche Begriffe sind dabei Begriffe von Beziehungen zu Objekten des Begehrens und Verlangens. Der Naturalismus ist somit vor allem durch Beziehungen charakterisiert, in denen ein Subjekt zu möglichen Objekten seines Begehrens steht. Auch andere Menschen oder Gott begegnen hier unter diesem Vorzeichen. Damit fungieren sie jedoch, um eine kantsche Formulierung zu verwenden, nicht als »Zwecke in sich selbst«, sondern lediglich als »Mittel«, um eigene Bedürfnisse zu stillen. Im Unterschied zu solchen natürlichen Beziehungen entstehen personale Beziehungen immer zwischen einem »Ich« und einem »Du« (141), die beide einzigartig sind und daher niemals füreinander als bloße Mittel fungieren können. Das gilt auch mit Blick auf die Beziehung zu Gott. Denn Gott ist es, in dem alle menschlichen Beziehungen miteinander verbunden sind. Wahre Gemeinschaft, so die Pointe der Überlegungen, entsteht und besteht also niemals in natürlichen, sondern ausschließlich in personalen Be­ziehungen. Und der Mensch ist zu einer solchen Gemeinschaft in der Lage, da er von Gott dazu bestimmt ist. Im Ganzen gesehen ist es dieser Dualismus zwischen natürlichen Beziehungen und personalen Beziehungen, der die Tiefenstruktur dieser Arbeit prägt. In seinem Rahmen muss daher auch die Entfaltung der Begriffe der Sünde und des Glaubens verstanden werden: Sünde wird von R. als dasjenige bestimmt, was die Gemeinschaft zerstört (224). Sie ist vor allem in der Geltungssucht des Menschen manifest (229 ff.) und mündet in einen Zustand, in dem eine Person sich in sich selbst isoliert. Er nennt diesen Zustand Alleinsein (243 ff.). Glaube ist in umgekehrter Blickrichtung die innere Kraft der Gemeinschaft. Er führt zur Gemeinschaft und erhält sie, indem er Personen als Personen aneinander bindet, und zwar im Modus der Liebe (284 ff.). Bekehrung ist schließlich derjenige Prozess, in dem eine Person wieder zur Gemeinschaft zurückgeführt wird (282 ff.). Ermöglicht wird dieser Prozess durch die geschichtliche Offenbarung Gottes in Christus (135.152).
Insgesamt zeigt sich, dass in der Abschlussarbeit eine dezidiert theologische Konzeption von Gemeinschaft vorgetragen wird, in der »Religion und Ethik nicht voneinander zu trennen sind« (142). Rückblickend auf diese religiösen Auffassungen seines Studiums notiert R. im späteren Text nur, dass er sie »bis zum Juni 1945 gänzlich« (303) aufgegeben habe. Im Anschluss nennt er drei eindrückliche Kriegserlebnisse, die diesen Wandlungsprozess beeinflusst haben könnten. Ihre gemeinsame Wirkung sieht er darin, dass sie seine Vorstellungen von der geschichtlichen Wirksamkeit Gottes nachhaltig in Zweifel gezogen hätten. Und so macht er schließlich geltend, dass die Rede vom göttlichen Willen ihren Sinn letztlich allein in dem erweise, »was wir für die grundlegendsten Vorstellungen von Gerechtigkeit halten« (305). Damit ist die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Moral aufgeworfen, die jetzt der Tendenz nach anders beantwortet wird als in der Abschlussarbeit. An die Stelle der damals beschworenen Synthese von Religion und Moral zeichnet der Text vielmehr das Bild eines Philosophen, der jetzt aus moralischen Gründen zur Ablehnung der »wichtigsten Glaubenssätze« (305) des Christentums gekommen ist. Der Text endet mit einer Reflexion über die moralische Bedeutung des Theismus, wobei es offenbleibt, ob die entworfene Sicht tatsächlich R.s eigene Position abbildet oder nicht.
So viel sei zu den beiden Texten gesagt. Sie erscheinen zusammen mit drei Kommentaren, die jeweils verschiedene Akzente setzen: Die Einleitung von Joshua Cohen und Thomas Nagel führt systematisch in den Text ein, indem Unterschiede und Kontinuitäten zwischen der Abschlussarbeit und R.s späteren Werken herausgestellt werden. Der »auffälligste Unterschied« wird darin erblickt, dass in Ersterer eine politische Konzeption der Gesellschaft »völlig fehlt« (16). Gemeinsamkeiten werden u. a. im Personenverständnis und dessen normativen Implikationen gesehen. In einer großangelegten historisch orientierten Studie weist Robert M. Adams nach, dass R. während dieser Zeit vor allem unter dem Einfluss des Denkens von Emil Brunner, Philip Leon und Anders Nygren gestanden hat. Jürgen Habermas fragt schließlich in seinem Nachwort nach der Bedeutung der religiösen Ethik des jungen R. für seine spätere politische Philosophie. Zu diesem Zweck interpretiert er das Verhältnis zwischen der Abschlussarbeit und den Werken zur politischen Ethik im Sinne seiner Theorie einer rettenden Übersetzung religiöser Gehalte in die Sprache der öffentlichen Vernunft. Dabei sieht er die »eigentliche Bedeutung« (331) der Abschlussarbeit darin, dass sie die Öffnung des rawlsschen Rechtfertigungsverfahrens gegenüber den religiös-weltanschaulichen Milieus der Gesellschaft verständlich mache. Diese Öffnung sei nämlich kein Bruch mit bisherigen Ansichten, sondern sei »in einer – zeitweise zurückgetretenen – religiösen Auffassung seiner Jugend verwurzelt« (333).
Das Buch ist für alle diejenigen eine Bereicherung, die sich für Hintergründe der rawlsschen Gerechtigkeitstheorie interessieren. Dabei kann das Verhältnis zwischen der Früh- und Spätphase in zwei Hinsichten weiterreichende Fragen aufwerfen: einmal mit Blick auf die Beziehung zwischen persönlichen Überzeugungen und der Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Theorie, ein andermal mit Blick auf die spannungsvolle Beziehung von Religion und der Begründung des moralischen Standpunktes.