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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1040-1042

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Fehling, Ruth

Titel/Untertitel:

»Jesus ist für unsere Sünden gestorben«. Eine praktisch-theologische Hermeneutik.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 448 S. m. Tab. gr.8° = Praktische Theologie heute, 109. Kart. EUR 49,80. ISBN 978-3-17-021405-7.

Rezensent:

Walter Klaiber

Ruth Fehling hat sich für ihre Tübinger Dissertation, die von Ottmar Fuchs betreut wurde, ein aktuelles Thema vorgenommen. Sie will untersuchen, wie die neutestamentliche Aussage, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist, heutigen Menschen verstehbar gemacht werden kann. Dabei geht es ihr nicht um die praktische Umsetzung in Verkündigung oder Unterricht, sondern um die grundsätzliche hermeneutische Frage.
Dieser Aufgabenstellung entspricht eine komplexe Vorgehensweise. Die Arbeit beginnt mit einer Einführung (I Einleitung; 13–49), in der zunächst Schlaglichter aus der aktuellen Diskussion in den Medien aufgegriffen, Fragestellung und Aufbau der Arbeit erläutert, ein erster Überblick über die Vielfalt der Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament gegeben und vor allem »der praktisch-theologische Ansatz« und damit die hermeneutischen Vorentscheidungen erläutert werden. Das biblische Zeugnis ist genauso ernst zu nehmen wie heutige Erfahrungen und umgekehrt (!). Wahrheitsmonopole von rechts oder links sind abzuwehren. Mit einem Begriff ihres Lehrers Fuchs beschreibt F. ihren eigenen theo­logischen »Standpunkt bezüglich des Kreuzes«. »Es geht um eine Unterbrechungsfähigkeit (Umkehr), die sich aufgrund der Haltung des Mitleidens ergibt. In diesem Mitleiden wird die unbedingte Gnade Gottes erfahren.« (49)
In dem umfangreichen ersten Hauptteil (»II Jesus ist für unsere Sünden gestorben – eine exegetische und systematische Spurensuche«; 51–288) breitet F. eine Fülle von Material aus. Sie beginnt mit »Vorbemerkungen« zum »Tun-Ergehen-Zusammenhang« (52–60), darauf folgen »Klärungen« zum Thema »Stellvertretung: ›Für uns‹« (61–87) und dann »der systematische Diskurs« (88–177). Hier werden theologische Entwürfe zum Thema in ökumenischer Eintracht unter den Rubriken »exkludierende« oder »inkludierende Stellvertretung« systematisiert und dann nach unterschiedlichen Kriterien ausgewertet. Erst dann folgt eine ausführliche Darstellung von »Stellvertretung bei Hans Urs von Balthasar« (145–177). Was F. an den teilweise recht spekulativ anmutenden Überlegungen von Balthasars fasziniert, ist seine am Motiv der Höllenfahrt Christi gewonnenen These von der »Unterfassung des Sünders« durch den Tod Christi. »Der Mensch sehnt sich nach einem Gott, der seine Abgründe, seine Ängste und seine Schuld mit ihm teilt, der in alle menschlichen Situationen hinein sagt: ›Ich bin da und ich heile dich‹« (176). Insofern ist das Kreuz »die logische Konsequenz der Inkarnation«. Anders als Balthasar meint F. allerdings, eine solche Theologie müsse »ohne den Zorn und das Gericht Gottes« auskommen (177).
Darauf folgt eine Analyse der »biblischen Zeugnisse« (177–257). Die traditionsgeschichtlichen Hintergründe der griechischen Um­welt und der alttestamentlich-jüdischen Tradition werden kundig dargestellt, Beispiele für eine mögliche Systematisierung dieser Hintergründe vorgeführt und dann an Texten aus dem Römerbrief einzelne Motive untersucht. Kennzeichnend ist die große Bedeutung, die F. Röm 14,15 wegen der sozialen und ethischen Implikation des Todes Jesu zumisst. Eine knappe Zusammenfassung unter ähnlichen Gesichtspunkten wie beim systematischen Diskurs be­schließt das Kapitel.
Das letzte Kapitel dieses Hauptteils bringt den »Vergleich des systematischen und des exegetischen Diskurses« (258–288). Unterschiede zwischen den beiden Diskursen werden genannt (259–264), »Paulus und einzelne Vertreter systematischer Postionen« (265–273) miteinander verglichen und »Persönliche Anfragen« gestellt (273–288). Hier wird eine Fülle offener Fragen umsichtig und differenziert besprochen. Vorläufiges Fazit: Das »für uns« muss »im Sinne der Liebe Gottes« interpretiert werden: »Gott ist für uns und nicht gegen uns« (287). Und: »Theologische Rede muss sich vom Leid der Menschen her unterbrechen lassen. … Eine Deutung des Lebens, Sterbens und Auferweckt-Werdens Jesu ist … von jenem Mitleid geprägt, dass [sic!] die Nähe zu den Menschen, Tätern wie Opfern gewinnt« (288).
Hilfe dazu will der letzte Hauptteil (»III Jesus für uns gestorben: praktisch-theologische Vertiefungen«; 289–410) bieten. In einer Reihe von »Vorbemerkungen« (298–320) behandelt F. das Thema »Schuld und Versöhnung in psychologischer Perspektive« (vor allem anhand von Jung und Rogers), benennt »verschiedene Aspekte echter Schuld«, beleuchtet »Versöhnung als ein soziales und gesellschaftliches Geschehen« und fragt: »Was ist im praktisch-theologischen Diskurs um Stellvertretung zu beachten?« Das führt zum eigentlichen Thema: »Versöhnung durch Stellvertretung: ein Diskurs zwischen formalisierten, tiefenpsychologisch (individuellen), sozialpsychologischen und theologischen Perspektiven« (321–410). Vorzüge und Nachteile »formalisierte(r) und ritualisierte(r) Versöhnung« sind rasch erhoben, ausführlich und einfühlsam kritisch wird dagegen Anselm Grüns »tiefenpsychologischer Blick auf Versöhnung und Erlösung« gewürdigt, seine »Kreuzestheologie« in ihrer Konzentration auf das Individuum aber als ein in seiner Bedeutung begrenztes »Zeitzeugnis« bewertet (358 f.).
Dem stellt F. die »Empathie – eine sozialpsychologische Perspektive« (358–410) gegenüber. Anhand des tiefenpsychologischen Ansatzes von Verena Kast und des neurobiologischen von Joachim Bauer sowie am Beispiel der beiden Beichtväter in Hermann Hesses Glasperlenspiel und der Gefängnisseelsorgerin Marion Grant diskutiert sie verschiedene Aspekte von Empathie, Mit-Leiden und Umgang mit Schuld. Sie erwägt eine Neubewertung des Motivs vom »Zorn Gottes« als notwendigem Widerstand gegen die Schuld (398 f.) und bespricht aus dieser Perspektive noch einmal die verschiedenen systematischen Entwürfe. Dabei unterstreicht sie er­neut die Bedeutung der These von der »Unterfassung des Sünders durch Gott« (nach von Balthasar; 361.397). Nur bedingt überzeugend ist die Anwendung dieser Kategorien auf die biblischen Aussagen. Ist die Aussage von Jes 53 getroffen, wenn man sagt: »Der Gottesknecht fühlt die Schuld der vielen« (401)? Macht es Sinn zu formulieren: »Der gekreuzigte Christus erleidet ›Gefühlsansteckung‹« (408; in Anlehnung an V. Kast)? Merkwürdigerweise behandelt F. gerade die Texte nicht, die das am ehesten zeigen würden (Mk 14,32–42; Hebr 2,17 f.; 4,15–5,10). Hier wird sie ihrem An­spruch, die biblischen Texte ganz ernst zu nehmen, nicht ganz gerecht.
Doch F. sagt selbst, dass das Christusereignis »nicht auf ein empathisches Geschehen reduziert werden« könne, die Perspektive der Empathie aber helfe, manche seiner Aspekte besser zu verstehen (361). Ihr Buch zeigt beides, vielleicht sogar klarer, als F. das wollte. Das gilt auch für den Schlussteil (IV An Stelle eines Schlusswortes: praktische Beispiele von Stellvertretung; 411–432). F. möchte an einigen eindrücklichen Beispielen der Bewältigung von Leiden und Schuld aufweisen, wie sich »konkrete Kreuzesnachfolge« vom jeweils Nächsten her erschließt. Sie möchte zeigen, »wie Gott Menschen in der Kreuzesnachfolge in die Versöhnung ruft, in die Liebe und Hingabe des eigenen Lebens« (432), und wie das wieder­um ein Licht auf die Bedeutung des Kreuzes Christi wirft.
F. hat ein äußerst anregendes, materialreiches und differenziert argumentierendes Buch geschrieben. Sie gibt Impulse, nennt Perspektiven, aber sie liefert keine schlüssige Theorie, manches bleibt widersprüchlich. Sie sagt selbst mit einem Zitat von Balthasars: »Ein System ist nicht anzustreben; das Kreuz sprengt jedes System« (49).