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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1012-1014

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Flaig, Egon

Titel/Untertitel:

Weltgeschichte der Sklaverei.

Verlag:

München: Beck 2009 (2. Aufl. 2011). 237 S. m. Ktn., Tab. u. Abb. 8° = Beck’sche Reihe, 1884. Kart. EUR 14,95. ISBN 978-3-406-58450-3 (2. Aufl.: 978-3-406-62196-3).

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

Egon Flaig, ab 1998 Inhaber des traditionsreichen althistorischen Lehrstuhls in Greifswald bis zur Schließung der dortigen Alten Geschichte, danach Ordinarius in Rostock, hat sich zum Thema der Sklaverei in der Antike und darüber hinaus bereits mehrfach geäußert. In diesem Taschenbuch bietet er eine Zusammenschau.
Kapitel 1 (13–32) liefert eine Begriffsklärung und eine Phäno­menologie; es stellt u. a. die Unterscheidung von »intrusiv« und »ex­trusiv« für das »Wesen« von Sklaverei zumindest als wichtigen Teilaspekt vor (»intrusiv« sei eine Sklaverei, »wenn die Sklaven überwiegend« in eine sklavenhalterische [oder, wie F. bevorzugt: »skla­vistische«] Gesellschaft »importiert werden«, »extrusiv«, wenn sie »überwiegend aus der eigenen Gesellschaft stammen« [17]) und sieht ihre Eigenart im Unterschied zu aktuellen, weltweit zunehmenden Formen persönlicher Unfreiheit (darunter die erzwungene Prostitution) darin bestehen, dass sie eine legale und öffentlich anerkannte Institution ist. – Kapitel 2 (33–82) durchmustert die erhaltenen Zeugnisse aus der Antike daraufhin, welche Formen von Sklaverei sie zu erkennen geben und wie sie beurteilt wurden, und zwar von der vorklassischen Zeit (Alter Orient, Ägypten, Ju­dentum) bis zur »christlichen« Spätantike. – Kapitel 3 (83–123) be­gibt sich auf ein heutzutage heikles Feld, indem es die »islamische Welt« von einst als »interkontinentales sklavistisches System« be­schreibt; die Gegenwartsbezüge liegen auf der Hand. – Kapitel 4 (124–138) geht der Frage nach, welche Rolle die Hautfarbe im Zu­sammenhang der kulturübergreifend feststellbaren Tendenz spiele, die »Anderen« abzuwerten, die in »Rassismus« umschlage, sobald den »Anderen« eine natürliche Minderwertigkeit unterstellt werde. Da nun die Sklaverei eine nicht kompensierbare zwischenmenschliche Ungleichheit erzeuge, entstehe aus ihr »unweigerlich die Vorstellung«, die anderen seien absolut minderwertig und gehörten gleichsam nicht zur gleichen Gattung wie man selbst (124). Zwar fänden sich bereits in der Antike (bei Aristoteles z. B.) Überlegungen, in denen »klimatheoretisch« abgeleitete interethnische We­sensunterschiede konstruiert werden. Einen »Hautfarben-Rassismus« aber gebe es erstmals bei muslimischen Theoretikern der Sklaverei (128). – Kapitel 5 (139–151) schildert die Funktion Schwarzafrikas als »Lieferzone« für Sklaven bereits in vorislamischer Zeit; seit dem Vorstoß des Islam in den südsaharischen Bereich aber sei die Versklavung von Schwarzafrikanern in einem Umfang angewachsen, dass man damit rechnen müsse, seit der Mitte des 7. Jh.s bis zum Ende des Ersten Weltkrieges seien »weit mehr subsaharische Afrikaner in die Kerngebiete des Islam verschleppt« worden als ab der Mitte des 15. Jh.s »über den Atlantik in die europäischen Kolonien, mindestens 17 Mio gegen 11,06 Mio« (148); dabei seien in den letzten Jahrhunderten zunehmend afrikanische Eliten in Sklavenjagd und -handel verwickelt gewesen und haben so zur »Selbst zerstörung« Schwarzafrikas nicht unwesentlich beigetragen. – Kapitel 6 (152–178) lenkt den Blick auf Resteuropa (nach den Riesenverlusten im Osten des Römischen Reiches an den Islam), das im frühen Mittelalter beinahe kollabiert und zur »sklavenliefernden Peripherie des größten sklavistischen Systems« zu werden drohte, welches die Welt bis heute kennt (153 f.), und sich erst mit der portugiesischen Expansion (ab der Mitte des 15. Jh.s) in den innerafrikanischen Sklavenhandel einklinkte, während vordem in Nordwest- und Mitteleuropa »Hunderte von Gemeinwesen entstanden, in denen die persönliche Unfreiheit ausdrücklich verboten war« (158); darum die Kapitelüberschrift: »Der unwahrschein­liche Weg zur transatlantischen Sklaverei«. – Kapitel 7 (179–198) behandelt speziell die Sklaverei in Amerika in ihrer regionalen Vielfalt (179 ff.), die (auf den ersten Blick paradox anmutende) Dichotomie zwischen antisklavistischer Haltung in den mittel-, west- und nordeuropäischen Mutterländern und der Duldung und rechtlichen Regulierung der Sklaverei in den überseeischen Kolonien (182 ff.), ferner den Sonderfall Nordamerika (185 ff.) sowie die Gründe, die gerade auch dort zur stärksten Verrechtlichung rassischer Diskriminierung führten (187 ff.), und setzt sich schließlich eingehend mit der – schwerlich haltbaren – These auseinander, wonach die Sklaverei in Afrika vor Ankunft der Europäer marginal gewesen sei (192). – Das Schlusskapitel (8 [199–217]) zeichnet in groben Zügen die Geschichte des Abolitionismus nach, von den Anfängen im späten 17. Jh. an (wobei lieber vom »freikirchlichen« Christentum in der Neuen Welt gesprochen werden sollte, nicht vom »evangelikalen« [199 ff.]), und wird wahrscheinlich am ehesten auf Widerspruch stoßen, und das, in Teilen zumindest, zu Recht.
Die Inhaltsübersicht hat erahnen lassen, dass sich F. mit diesem Buch auf ein »Minenfeld« begibt (»zwischen Sarazzin und Patrick Bahners«, sozusagen). Gleichwohl hat das Buch Anspruch auf sachliche Prüfung. Ich kann zwar nicht alles wirklich beurteilen, was darin verhandelt wird, bin mir aber sicher, dass hinter die von F. im Schlusskapitel hergestellte Verbindung zwischen dem »Kampf um die Abschaffung der Sklaverei« (so die Überschrift) und dem westeuropäischen Kolonialismus ein dickes Fragezeichen zu setzen ist; hat doch zu den Haupttriebfedern dieses Kampfes schwerlich der Abolitionismus oder die Unterbindung des afrikanischen Sklavenhandels gehört und ist die Rede vom »humanitären Kolonialismus« (210 ff.) obszön und eine Provokation! Ebenso sicher ist mir allerdings, dass an F.s These viel Richtiges ist, wonach es in erster Linie der von Antike, Judentum und Christentum geprägten europäischen Kultur zu verdanken ist, wenn es im Laufe des 19. Jh.s gelang, die Sklaverei (fast) weltweit abzuschaffen (199 u. ö.). Welche »besondere kulturelle und« dann auch »politische Dynamik« aber war dafür verantwortlich zu machen (11)? Darauf gibt es wohl nur dann eine plausible Antwort, wenn ein unverstellter Blick auch und gerade in der biblischen und patristischen Überlieferung noch anderes wahrnimmt als schiere Anpassung an »Realitäten« (wie die Sklaverei als Institution) – ein subversives Element nämlich, ein Funke, der an der und jener Stelle ein Licht der Freiheit entzündete, wann immer es gelang, Abstand zu gewinnen von gesellschaftlichen Zwängen; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dafür gibt es freilich unzweideutigere Belege als den von F. und anderen favorisierten (Gregor.Nyss., eccl.hom.4 [81]).
Wer sich in der Geschichte der Ostkirchen (von China, der Kaukasusregion, über den Balkan und Byzanz bis nach Ägypten und dem Irak) auskennt, weiß, dass das traurige Schicksal der Armenier im frühen 20. Jh. keinen Einzelfall darstellt; und immer wieder spielten die Attacken von (aus Militärsklaven bestehenden) Reiterschwadronen als Zucht- und Versklavungsinstrument eine we­sentliche Rolle. Man lasse sich, von Gaddafi oder wem auch immer, kein Zerrbild von den historischen »Kreuzzügen« und ihrer Tragweite aufschwatzen und widerspreche, wann immer der Djihad spiritualistisch verklärt wird. Ein Friede zwischen den Kulturen, der das Ziel aller sein muss (und ganz gewiss auch F.s Ziel ist), ist nur erreichbar, wenn eben nicht geleugnet, nicht verharmlost wird, sondern wenn Muslime und Christen die Opfer von Kreuzzug und Djihad gemeinsam beweinen und nach neuen Wegen des Miteinanders suchen.