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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

954-956

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Pfordten, Dietmar von der

Titel/Untertitel:

Normative Ethik.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2010. XII, 429 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 34,95. ISBN 978-3-11-022690-4.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Die vieldiskutierte Frage, wie man handeln soll, findet sich in ganz verschiedenen Bereichen des Lebens: »Moral, Recht, Religion, Erziehung, Politik, Technik, Medizin, Konventionen, Einsichten des guten Lebens« (3) geben darauf handlungsleitende Antworten, formulieren also Normen, Kritik oder Rechtfertigungen. Dietmar von der Pfordten, Professor für Rechts- und Sozialphilosophie in Göttingen, geht es in dem hier vorzustellenden Buch nicht um die handlungs- und einstellungsprägenden Wertungen, die Sache der Moral sind, sondern um deren mögliche Kritik oder Rechtfertigung, was Sache der normativen Ethik ist. Entgegen einer heute oft bemerkbaren mangelnden Trennung von Moral und Ethik differenziert P. zwischen beiden sehr deutlich: »Moral bzw. Sitte ist … die wirkliche … Gesamtheit … von primären Wertungen, Normen, Regeln und Überzeugungen« (10), während die Ethik als deren Reflexion »eine sekundäre Beschreibungs-, Bewertungs- und Verpflichtungsordnung« (2) ist. Zu den Voraussetzungen dieses Ansatzes gehört ferner die Distanz zu einer verselbständigten Metaethik, da sie »nicht wirklich fruchtbar unabhängig von einer entfalteten normativen Ethik betrieben werden« (14) kann.
Um nun zu seinem Ansatz einer normativen Ethik zu gelangen, hat P. die Bestandteile vieler normativ-ethischer Theorien analysiert, verglichen und »zu einer weiterentwickelten normativen Ethik synthetisiert« (17). Das Ergebnis dieses Prozesses besteht in »fünf Elementen einer adäquaten normativen Ethik« (17), denen die Kapitel 1 bis 5 gewidmet sind. Dann folgt eine metaethische Reflexion, während in den Kapiteln 7 bis 16 die entwickelte normative Ethik an einzelnen Problemfeldern entfaltet wird.
P. hat aus seiner Synthese der normativ-ethischen Theorien folgende fünf Elemente gewonnen, die er für eine normative Ethik als adäquat beurteilt:
1. Als Ausgangspunkt wählt er das »Prinzip des normativen Individualismus«, demzufolge »in letzter Instanz ausschließlich … alle betroffenen Einzelnen zu berücksichtigen sind« (23).
2. Bei dieser Berücksichtigung sind die »Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen« (57), also die Belange und Interessen der Individuen relevant, die dagegen durch »Zwangsernährung, Lügendetektoren, Folter, Sklaverei« (84) verletzt werden.
3. Ethisch bedeutsam sind die Individuen mit ihren näher bezeichneten Interessen, die sich auf die von P. herausgestellten sieben möglichen Teile einer Handlung beziehen können, also auf ihre Bedingungen, Wünsche/Überzeugungen, Ziele, Mittel, Handlungswillen, Handlungsführungen, Konsequenzen (90–149).
4. wird die Vermittlungsaufgabe der Moral zwischen widerstreitenden Interessen von der normativen Ethik in den Blick genommen, um zum Modus der Abwägung zu gelangen, um den Widerstreit also zu lösen (150–164).
5. geht es um die tatsächliche inhaltliche Abwägung der divergierenden Belange. Während das Vertrags- bzw. Zustimmungsprinzip die bisherigen Elemente zusammenfasst, aber für eine inhaltliche konkrete Abwägung zu abstrakt ist, entfaltet P. mit dem »Prinzip der relativen Individual- und Ander- bzw. Gemeinschaftsabhängigkeit der Belange« (210) das zentrale Prinzip für die inhaltliche Abwägung.
Nach dieser Darlegung der fünf Elemente einer normativen Ethik, die hier nur formal vorgestellt, aber nicht in P.s umfassender Diskussion nachgezeichnet werden können, stellt sich die Frage der Metaethik an die normative Ethik: »ob sie Überzeugungen bzw. (Wert-)Urteile formulieren kann, welche diese primären Neuordnungen objektiv bewerten … bzw. rechtfertigen« (245) oder nicht. Hier kommt P. hinsichtlich der Metaethik »zu dem Ergebnis, dass die ethische Rechtfertigung der Moral zwar kognitivistisch bzw. objektivistisch, nicht aber realistisch ist. Dies entspricht unseren Alltagsüberzeugungen. Wir glauben, dass ethische Einsichten und Urteile … richtigkeitsfähig bzw. schwach objektiv bei der Findung einer vernünftigen Lösung von Konflikten sind, nicht aber, dass sie Tatsachen beschreiben« (258).
In den folgenden Kapiteln 7 bis 16 konkretisiert P. seine normative Ethik. Er beginnt mit den gedanklichen und sprachlichen »Realisierungsformen der Ethik« (259), handelt also über die Sachverhalte von Bewertung, Norm, Regel, Pflicht und Rechten (259–271). Da P. die Pflicht als wichtigste Realisierungsform wegen ihrer unmittelbar handlungsbestimmenden und konfliktlösenden Wirkung be­stimmt, erörtert er sie ausführlich hinsichtlich der Aspekte der Pflichten gegen sich selbst (272–280), der Pflichttypen (281–293) und des über- bzw. unterpflichtmäßigen Handelns (294–306). Daran schließen sich die Reflexionen des Paternalismus (307–318) und der moralischen Konflikte (319–337) an. Die Reichweite dieser Ethik des normativen Individualismus erstreckt sich – wegen der Besonderheit ihrer Würde – besonders auf die Menschen, sieht aber zugleich die Notwendigkeit der zunehmenden Berücksichtigung von Tieren, Pflanzen, Mikroorganismen, Arten, Ökosystem und der Biosphäre (338–351). Danach charakterisiert P. die in den Normordnungen und der ethischen Tradition bedeutsamen Sachverhalte von Schuld, Gerechtigkeit, Verantwortung und Verhältnismäßigkeit (352–364) und bestimmt die wichtige Relation von Individual- und Sozialethik (365–380). Im letzten Kapitel konkretisiert P. seinen Ansatz an drei medizinethischen Beispielen, dem Verhältnis von Arzt und Patient, der Sterbehilfe und der Anwendung der Gentechnik bei Menschen (381–400). In diesem Zusammenhang sieht P. die Gefahr einer generellen Ausrichtung auf ein zweckrationales Denken, gegen das der verantwortungsbewusste Arzt seinen Einsatz für die Selbstbestimmung des Patienten setzt, das bei der Sterbehilfe zu Freiheitsverlusten und zu einer inhumanen Gesellschaft führt und bei der Gentechnik zu manipulativen und instrumentalisierenden Eingriffen: »Man wird sich unablässig fragen müssen, ob diese zunehmende Selbstveränderung des Menschen … seinem Glück und seiner Lebenszufriedenheit dient« (399).
Gerade vor dem Hintergrund, dass die Position einer normativen Ethik gegenwärtig durchaus bestritten wird, ist dieser Entwurf sehr interessant, denn er zeigt, auf welche Weise der Ansatz eines normativen Individualismus entwickelt werden kann. Dabei sind, wie angedeutet, wichtige Problemfelder besprochen, präzis erfasst und eine umfangreiche Literatur verarbeitet worden. Gerade aus diesem Grund ist es zu bedauern, dass dieses Buch nur über ein Sach- und nicht auch über ein Personenregister verfügt.