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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

172–174

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Reller, Jobst

Titel/Untertitel:

Mose bar Kepha und seine Paulinenauslegung nebst Edition und Übersetzung des Kommentars zum Römerbrief.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 1994. X, 377 S. gr. 8o = Göttinger Orient-Forschungen, I. Reihe Syriaca 35. Kart. DM 98,­. ISBN 3-447-03584-6.

Rezensent:

Wolfgang Wiefel

Das Erbe der alten syrischen Kirche gehört ­ nicht nur aus sprachlichen Gründen ­ zu den abseitigsten Bereichen der gesamtkirchlichen Tradition. Der Nonchalcedonismus des Ostens war seit dem Siegeszug des Islam von der übrigen Kirche vollends abgetrennt und trat nur kurzzeitig ins Blickfeld des Abendlandes, als man sich im 16. Jh. darum bemühte, die syrischen Monophysiten in eine Union einzubeziehen. Seither interessierten sich nur noch die Dogmenhistoriker, allenfalls die Erforscher des neutestamentlichen Textes für diese entlegene Provinz. Die Älteren werden sich vielleicht daran erinnern, daß sich Werner Elert in seinen letzten Lebensjahren dem Ausgang der altkirchlichen Christologie zuwandte und nicht ohne Sympathie den syrischen Monophysitismus dargestellt hat. Die Liturgie und noch mehr die Bibelauslegung des transbyzantinischen Ostens standen ganz im Schatten. Ihr haben sich in der Stille drei Generationen von Forschern gewidmet: der durch die Ereignisse des Weltbürgerkrieges aus seiner Heimat Estland nach Chicago verschlagene Arthur Vööbus (1908-1988), der exzellente Spezialist für die Geschichte des syrischen NT-Textes, der in Göttingen wirkende Jouko Martikainen, der dem Syrer Efrem und dem von Elert herausgestellten Philoxenos von Mabbug neue Seiten abgewann (Gerechtigkeit und Güte Gottes, 1981) und der Vf. der vorliegenden Arbeit. Dem ersten gilt die gedenkende Widmung, dem zweiten der dem Doktorvater geschuldete Dank, der dritte hat sich mit diesem Werk als gleichermaßen philologisch wie dogmenhistorisch-exegetisch versierter Fachmann eingeführt.

Mose bar Kepha, in Mar Sargis unweit Mossul am Tigris beheimatet, der mit seinem Nachnamen daran erinnert, daß es neben der römischen eine syrische, nach Antiochien, der östlichen cathedra Petri weisende Tradition gab, ist keine zufällige Wahl. Er heißt in seiner Kirche der "Ausleger" und wird in ihrem Bereich als theologische Autorität und vermeintlicher Schöpfer der Liturgie angesehen (zur Biographie, ausgehend von einer syrischen vita, 21-58). Das Werk liegt in einem umfangreichen handschriftlichen Bestand vor, der nur zum kleinen Teil ediert und nur partiell übersetzt ist, etwa ins Lateinische (MG 111, 481-808) und in letzter Zeit auch ins Deutsche. Es handelt sich um dogmatische und liturgische Schriften, aber auch um exegetische Werke zum Hexaemeron, den Psalmen, den Evangelien und dem Apostolos, zu dem die erstmalig in wissenschaftlicher Bearbeitung vorgelegte Auslegung des Römerbriefs gehört. Die Auflistung der handschriftlichen Bezeugung (59-76) leitet über zu einer Chronologie der Schriften, die aufgrund der Rückverweise innerhalb der eigenen Werke zu dem Ergebnis kommt, daß der hier edierte Römerbriefkommentar deren Abschluß darstellt.

Den Hauptteil des Buches bildet dessen Präsentation in einer kritisch erarbeiteten syrischen Originalfassung mit paralleler deutscher Übersetzung (217-347). Es ist das dritte Auslegungswerk des Mose bar Kepha, das nach dem Hexaemeron und dem Johanneskommentar, beide in der gleichen Reihe (GOF I, 14 bzw. 18), in dieser Form zugänglich gemacht wird.

Drei Aspekte lassen die Beschäftigung mit diesem vergessenen Autor lohnend erscheinen: der textkritische, der auslegungsgeschichtliche, der dogmenhistorisch-theologische.

Die Frage nach dem Bibeltext führt zu einem eindeutigen Resultat: "Auch im Pauluskommentar hält sich Mose durchweg an den Text der Peschitta" (114). Wer auf einen altsyrischen Text gerechnet hat, wie ihn Vööbus für die Evangelien wahrscheinlich gemacht hat, sieht sich hier enttäuscht. Auch die im Westen entstandene philoxenische und harklensische Revision werden von dem Ostsyrer nur zur immanenten Textkorrektur herangezogen.

Die auslegungsgeschichtliche Position hängt eng mit der Quellenfrage zusammen. Voraussetzung ist dabei die kompliziert erscheinende Erarbeitung des handschriftlichen Befundes. Hier waren fünf, zumeist in britischen Bibliotheken liegende Abschriften des Kommentars zu den paulinischen Briefen auszuwerten (Beschreibung: 88-110). Grob bezeichnet erschließt sich die Römerauslegung des Mose bar Kepha aus kombinierter Nutzung eines Kurztextes und einer Langfassung. Für die Einleitung und (mit wenigen Ausnahmen) die cap 1-7,13 steht nur die epitomeartige Kurzfassung zur Verfügung, für Fragmente in cap 4-6 und von 7,14 ab haben wir die Auslegung in der unmittelbar auf Mose zurückgehenden Gestalt.

Mose ist nur sehr bedingt als selbständig arbeitender Exeget zu betrachten. Was schon zu früheren Werken festgestellt wurde, gilt hier in noch größerem Maße: Seine wichtigste Vorlage bildet das Homilienwerk des Johannes Chrysostomos, das schon früh ins Syrische übertragen wurde. Angesichts seiner prächalcedonensischen Christologie ist Chrysostomos der Kirchenvater des östlichen Monophysitismus. Das überraschende Ergebnis dieser Untersuchung ist freilich, daß der nächstwichtigste Autor in Zitat und Paraphrase Theodor von Mopsuestia ist, der von den Nestorianern hoch geschätzt wurde. Das könnte das Urteil bestätigen, daß ein wissenschaftlicher Austausch zwischen Jakobiten und Nestorianern bestand, ja daß diese Auslegung im Dienst einer Synthese stand, die den jakobitischen Westen und den nestorianischen Osten unter dem Patriarchat von Antiochien zu einen versuchte (216).

Gibt es jenseits orthodox klingender Formelkompromisse eine theologische Spezifik dieser Römerbriefauslegung? Sie kann hier nur in der Weise angedeutet werden, daß auf Stellen verwiesen wird, die christologisch signifikant erscheinen und ins Spannungsfeld der Auseinandersetzung zwischen Monophysiten, Nestorianern und der byzantinischen Orthodoxie gehören.

Während in der Regel die Exegese eines Verses auch im Langtext nur wenige Zeilen umfaßt, fällt bei ihnen die Länge auf. Den Spitzenplatz hat Röm 8,3 mit 45 Zeilen, es folgen 9,5 mit 21, dann 8,29 mit 14 und 8,32 mit 10. Wie hier ausgelegt wird, mag eine Passage der Interpretation von 8,3 zeigen, an der Werner Elert seine Freude gehabt hätte:

"Mit dem Sohn meint er hier nicht den Menschen aus Maria, wie die Häretiker sagen, sondern Gott das Wort, der auf natürliche und ewige Weise oberhalb von Zeiten und Welten vom Vater gezeugt wurde. Es wird gefragt, weshalb Christus dieses leidensfähige und sterbliche Fleisch annahm und in ihm gegen den Satan, die Sünde und den Tod kämpfte und nicht einen anderen Leib. Wir sagen: Weil eben diesem von ihnen allen Gewalt angetan wurde, besiegte er sie durch seinen Gehorsam. So sehr auch dieses Fleisch nach dem Wort der Gerechtigkeit den Sünden unterworfen war, wollte Gott sie nicht, als er sie von ihnen retten wollte, ohne Gerechtigkeit erlösen, sondern in Gerechtigkeit" (251).

Wer sich in diese Auslegung vertieft, dem wird auch die gängige Rede vom antiochenischen Moralismus (dazu 208) vergehen, angesichts der eindrucksvollen Wendungen, die die Rechtfertigung aus Gnade und aus Glauben beschreiben. Das Werk bestätigt die Einsicht, daß das gewaltige Arbeitsgebiet Paulus als Lehrer der Väter, von dem K. H. Schelkle die Bereiche des Westens und des griechischen Ostens vermessen hat, jenseits dieser Grenzen noch bedeutsame Entdeckungen bereit hält.