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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

657-659

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hebel, Johann Peter

Titel/Untertitel:

Predigten. »Die Morgenröthe der Aufklärung, die Milderung der Sitten«. Hrsg. v. Th. K. Kuhn u. H.-J. Schmidt.

Verlag:

Basel: Schwabe 2010. 283 S. gr.8°. Geb. EUR 39,50. ISBN 978-3-7965-2666-4.

Rezensent:

Andres Straßberger

Anzuzeigen ist eine für einen breiteren Leserkreis konzipierte Neuausgabe der Predigten des südwestdeutschen Dichterpfarrers Jo­hann Peter Hebel (1760–1826). Die sparsam kommentierte, vornehmlich zitierte Bibelstellen nachweisende Edition versteht sich als preislich erschwingliche Leseausgabe. Eine solche dürfte 172 Jahre nach der letzten vergleichbaren Unternehmung nicht nur bei Freunden des Schriftstellers Hebel, sondern auch bei allen an der interdisziplinären Konstellation »Predigt und Literatur« sowie überhaupt am Aufklärungszeitalter und der Aufklärungspredigt Interessierten willkommen sein.
Die Herausgeber präsentieren in ihrem Band 37 Predigten aus den Jahren 1788 bis 1804 (29–275) sowie die fiktive, Fragment gebliebene, womöglich um 1820 entstandene »Antrittspredigt vor einer Landgemeinde« (276–278). Die vorliegende Ausgabe bietet einen um Druckfehler berichtigten Textbestand nach den Bänden 5 und 6 der »Sämmtlichen Werke« (1838). Während dort die Predigten nach dem Kirchenjahr angeordnet waren, bieten die Herausgeber sie nun in chronologischer Reihenfolge. Beide Ordnungen haben ihr jeweiliges homiletisches und historisches Recht und gewähren gleichermaßen interessante, aber auch unterschiedliche Einblicke in die Predigttätigkeit Hebels. So ist in der gegenwärtigen Ordnung an­hand der mitgeteilten Predigttexte für den Kenner der Materie sehr schnell zu ersehen, dass Hebel in den Anfangsjahren der in den evangelischen Kirchen eingeführten Perikopenordnung folgte und daher über die sich jährlich wiederholenden sonn- und festtäglichen Evangelien- bzw. Episteltexte predigte (Predigten Nr. 1–10). Im Kirchenjahr 1793/94 scheint er dann jedoch zu selbst gewählten Predigttexten übergegangen zu sein, eine homiletische Freiheit, die er sich in den darauf folgenden Jahren immer wieder nahm und die ihm kirchenbehördlich offensichtlich erlaubt wurde. So hilfreich die chronologische Reihenfolge für diese Erkenntnis ist, so erschwert sie hingegen die schnelle Orientierung darüber, zu welchen Sonntagen des Kirchenjahres zwei oder mehr Predigten aus Hebels Feder vorliegen (wie z. B. jene vier zu Gründonnerstag [Nr. 18.21.29.34] oder jene fünf zum zweiten Christtag [Nr. 20.25.31.36. 37] gehaltenen), teils mit gleich bleibenden, teils mit wechselnden Predigttexten. Ein entsprechendes Kirchenjahresregister wäre für dahin zielende Textvergleiche m. E. hilfreich gewesen. Von Nutzen für anderweitige Vergleiche ist jedenfalls ein Register aller bearbeiteten Predigttexte (leider fehlt ein Register der von Hebel zitierten, durch die Herausgeber in Fußnoten nachgewiesenen Bibelstellen), mit dessen Hilfe sich mühelos feststellen lässt, über welche Bibelabschnitte eine oder mehrere Predigten des Lörracher Pfarrers und späteren Karlsruher Kirchenrats vorliegen. Eine Zeittafel sowie ein Verzeichnis ausgewählter Literatur zu Hebel (279–282) runden den auch buchtechnisch ansprechenden Band ab, der allen an der Thematik Interessierten (auch aktiven Predigerinnen und Predigern) vorbehaltlos zu empfehlen ist.
Ein besonderer Lektüregewinn dürfte für den kirchen- und predigtgeschichtlich interessierten Leser zweifelsohne darin liegen, dass die Predigten Hebels geeignet scheinen, gängige Klischees in Bezug auf »die« Aufklärungspredigt zu revidieren. In diesem Zu­sammenhang ist der Einleitungsbeitrag von Thomas K. Kuhn anerkennend hervorzuheben, der unter der Überschrift »Trost und Aufklärung« umsichtig, problembewusst und informativ in He­bels Predigtwerk, dessen geschichtlichen Kontext sowie in das prinzipielle Aufklärungsverständnis ihres Verfassers einführt (9–26). Wenn Kuhn dabei konstatieren muss, dass die Stellung des Dichterpfarrers zur Aufklärung in der Forschung umstritten ist, indem er »einerseits als Vertreter der Aufklärung und andererseits als deren Überwinder« (26) interpretiert wird, hat dies nicht nur mit unterschiedlichen theologischen Einstellungen innerhalb der Hebelforschung in Bezug auf »die Aufklärung« zu tun. Ein ganz eigenes Problem scheint nach Meinung des Rezensenten in der kirchenhistorischen Forschung selbst zu liegen, indem diese noch immer weit davon entfernt ist, ein ausreichend differenziertes Bild über den theologischen und kirchengeschichtlichen Entwick­lungsgang der Aufklärung in Deutschland zu zeichnen (insbesondere was die zweite Hälfte des 18. Jh.s betrifft). Daher ist sie bislang auch nicht in der Lage, aufklärungstheologisch vermeintlich »un­typische« Positionen, wie die Hebels, in ein plausibles Gesamtbild der Epoche zu integrieren.
In diesem Zusammenhang zeigt sich einmal mehr, dass das vor über 80 Jahren von Karl Aner in dessen »Theologie der Lessingzeit« (Halle 1929, 3 f.) vorgetragene metahistorische Strukturmodell, das drei Phasen der aufklärungstheologischen Entwicklung zu unterscheiden versucht (Wolffianismus, Neologie, Rationalismus) und das sich (mangels Alternativen) in der gegenwärtigen Theologie- und Kirchengeschichtsschreibung noch immer ungebrochener Zustimmung erfreut, auch im Falle Hebels sich weder zur Standortbestimmung von dessen eigener Position noch der seiner theologischen Lehrer eignet. Wenn Kuhn mit Blick auf Hebels Erlanger Studienzeit (1778–1780) den Forschungsstand dahingehend resümiert, dass der Studiosus theologiae hier in eine Theologische Fakultät eintrat, »die sich der Aufklärung verpflichtet wusste« (10), dann ist das zwar sicher richtig, aber in seinem Aussagegehalt noch weitgehend unspezifisch.
Der anschließende Versuch, den dort lehrenden Georg Friedrich Seiler (1733–1807) als einen »der Hauptvertreter der sogenannten ›Neologie‹« zu charakterisieren, führt allerdings in die falsche Richtung. Der Erlanger Theologe war weder theologisch-dogmatisch noch homiletisch ein Vertreter der Neologie im Anerschen Sinn. Vielmehr repräsentierte der zeitgenössisch stark rezipierte, nicht zuletzt auch als Homiletiker und Liturgiker äußerst einflussreiche Seiler auf dem Höhepunkt der Neologie in Deutschland den Typ eines »kirchlichen Aufklärers«, der im Blick auf traditionelle und moderne theologische Strömungen ebenso eklektisch wie assimilierend agierte. Deshalb vertrat Seiler auch eine (Hebel im Kern ähnliche) konfessionell-biblische Predigtauffassung, die in engem Kontakt mit allgemeinen aufklärungstheologischen und -homiletischen Entwicklungen stand (vgl. O. Jordahn: Georg Friedrich Seilers Beitrag zur Praktischen Theologie der kirchlichen Aufklärung, 1970, 144 f.). So gesehen ließe sich das vermeintlich Widersprüch­liche im Aufklärer und Prediger Hebel, wie zum Beispiel seine auf »biblische Religiosität« (19) zielende Predigttätigkeit bei gleichzeitig – für die Predigtvorbereitung – nachgewiesener Benutzung des von der älteren Forschung als »vulgärrationalistisch« titulierten »Allgemeine[n] Magazin[s] für Prediger« (17), vielleicht auf dem Hintergrund von Seilers Theologie und Homiletik bzw. einer »Erlanger Theologie« in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s (zumindest weitgehend) einsichtig machen.
Wie dem auch sei: Fraglos weisen Hebels Predigten bzw. Kuhns sympathischer Versuch, ihren Urheber als einen »gemässigte[n], für religiöse und theologische Fragen offene[n] Aufklärer« (26) zu interpretieren, in eine Richtung, die von der (theologischen) Aufklärungsforschung zukünftig viel stärker als bislang herauszuarbeiten sein wird.