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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

561-562

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Karle, Isolde

Titel/Untertitel:

Kirche im Reformstress.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2010. 278 S. 8°. Kart. EUR 19,95. ISBN 978-3-579-08119-9.

Rezensent:

Hans-Martin Gutmann

Wie können die evangelischen Großkirchen in Deutschland angesichts von Individualisierung und Pluralisierung der Religionskulturen, angesichts rückläufiger Mitgliederzahlen und Finanzen ihre Aufgabe erfüllen – das Evangelium mitteilen, für die Menschen da sein, attraktiv bleiben oder wieder werden? Isolde Karle, Professorin für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum, analysiert umsichtig und präzise Ambivalenzen einer Umstellung der Kirche von »Institution« auf »Organisation«, die angesichts dieser Lage im vergangenen Jahrzehnt von Kirchenleitungen konzentriert vorangetrieben wurde und verdichtet im »Impulspapier« ›Kirche der Freiheit‹ 2006 einen Ausdruck gefunden hat.
K. zeigt zunächst: Entgegen verbreiteten Ansichten ist religiöse Verbundenheit heute in der Regel nicht frei floatierend individuell zusammengebastelt, sondern verbindet sich im Raum christlicher Religion noch immer weitgehend mit kirchlichen Gestaltfindungen. Schon diese Einsicht kann zu befreiender Desensibilisierung gegenüber Alarmismus im Blick auf die Zukunft der Kirche beitragen. K. analysiert sodann die teilweise paradoxen Wirkungen von Ökonomisierung, Top-down-Organisation und milieuspezifischer Angebotsorientierung kirchlicher Arbeit. Wenn der Erfolg kirchlicher Arbeit in ökonomisch messbaren Steigerungen gesehen wird, geht der der Kirche aufgegebene Inhalt verloren, der sich in seinem Zentrum einem solchen Wachstumsmodell verweigert. Glauben wächst aus dem Hören des Evangeliums und ist als Werk des Heiligen Geistes frei gegenüber menschlichen Machbarkeitsphantasien – so notwendig es ist, in Gottesdienst, Predigt und Seelsorge, Religionspädagogik und Diakonie und öffentlicher Präsenz der Kirche handwerklich gute Arbeit zu machen, wertschätzend mit den hier beteiligten Menschen umzugehen, auch Arbeit gut zu organisieren und Finanzen gut zu verwalten. Entscheidend ist, dass das Verhältnis von Zielen und Mitteln nicht verkehrt wird.
Entsprechend beim Thema »Organisation«. Hier zeigt die Vorstellung, Kirche könne als Großorganisation mit örtlichen Filialen (= Gemeinden) von der Organisationsspitze aus organisiert werden, in der Praxis gegenteilige Wirkungen in Blick auf die intendierten Ziele: beispielsweise wenn Mittelverteilung »erfolgs­orientiert« organisiert wird, wenn »Leuchtturmprojekte« bei gleichzeitiger Entwertung der »normalen« Arbeit von Kirchengemeinden gefördert werden, wenn in all dem intrinsische Motivationen bei haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen durch extrinsische Motivierungsprogramme zerstört werden. Eine Kultur des Vertrauens und der Wertschätzung gegenüber den sich je vor Ort in der Kirche engagierenden Menschen wird so aufs Spiel gesetzt. Schließlich, so sinnvoll Milieuaufmerksamkeit in der Ge­staltung kirchlicher Arbeit immer wieder werden kann: Milieuspezifische Angebote – z. B. Gottesdienste für Singles, Motorradfahrer oder Tierhalter – wirken immer zugleich auch ausgrenzend gegenüber Menschen, die in ihrer Lebenshaltung und ihrem Lebensgefühl dadurch eben gerade nicht getroffen werden. Deshalb können milieuspezifische Angebote immer nur einen Teil und nie das Ganze der Arbeit einer Gemeinde vor Ort ausmachen.
K. zeigt demgegenüber mit aller argumentativ überzeugenden, empirisch abgestützten und engagiert vorgetragenen Klarheit: Die Stärke der Kirche in ihren Lebens- und Arbeitsvollzügen liegt gerade dort, wo sie in solchen Organisationsmodellen vernachlässigt und nicht wertgeschätzt wird: in den Gemeinden vor Ort mit ihrer Verbindung von ausdrücklich religiöser und unspezifisch geselliger Kommunikation, ihren unspezifischen und gerade dadurch lebensnahen Vernetzungen mit lebensweltlich-alltäglichen Interaktionen. Die Profession von Pfarrerinnen und Pfarrern findet ihre Basis in ihrer Präsenz und ihrem Eingebundensein in alltäglich-lebensweltliche Prozesse in Kommunikation unter körperlich anwesenden Menschen. Gerade als Generalist/innen sind Pfarrer/ innen Spezialisten für die Erhaltung eines Raumes von Wertschätzung und Vertrauen ohne Ausgrenzung gegenüber Anderem und Fremdem – wobei ihre spezifischen Kompetenzen z. B. in Gottesdienstgestaltung, Predigthalten, Seelsorgegesprächen und vieles andere mehr durch diesen Raum unspezifischer Kommunikation gestützt und gerade nicht gestört oder zerstört wird. In dem Maße, wie Kirche als Organisation diese Räume mit ihren Möglichkeiten von Interaktion und Selbstverhältnissen nicht ausreichend wertschätzt, tendenziell sogar aushöhlt, wird sie ihre eigene eigentlich tragfähige organisatorische Basis zerstören.
Manches hätte ich mir von diesem Buch noch gewünscht. Dazu gehört eine stärkere Wertschätzung der Arbeit in übergemeindlichen Diensten, die vor Ort viele Züge der Interaktionsformen tragen, die K. als typisch für die Ortsgemeinde beschreibt. Dazu gehört die Wahrnehmung, dass mediale Kommunikation, insbesondere über die sozialen Netzwerke des Web 2.0, zunehmend zum integralen Bestandteil der Kommunikation unter körperlich An­wesenden werden – und nicht zu ihrem Gegenteil (dies gilt nicht nur für die Jugendkulturen). Stärkere Aufmerksamkeit hätte ich mir für die Pluralisierung von Religion in unserem Lande ge­wünscht: Die evangelischen Kirchen finden heute ihre Gestalt immer auch im Gegenüber zu jüdischen, muslimischen, buddhistischen und weiteren Glaubensformen mit ihren jeweiligen Ge­sellungsformen, in Respekt und Darstellung des jeweils Eigenen. Und schließlich hätte ich mir von K. bisweilen größere Aufmerksamkeit gewünscht, wo in der Praktischen Theologie und anderen theologischen Disziplinen ebenfalls z. B. über Theologie und Ökonomie, Kirche in der Stadt, Face-to-face-Kommunikation und me­diale Kommunikation nachgedacht wird.
Diese kleinen Fragezeichen ändern nichts daran, dass nach meinem Urteil hier ein klug argumentierendes, theologisch ebenso wie sozialwissenschaftlich überzeugendes, gründlich und einleuchtend vorgetragenes, zudem gut leserliches Plädoyer für eine schlechterdings notwendige Selbstbesinnung der evangelischen Kirche gelungen ist. Dieses Buch gehört auf die Schreibtische in Kirchenleitungen in den Zentralen und jeweils vor Ort in den Gemeinden.