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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

520-522

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lincicum, David

Titel/Untertitel:

Paul and the Early Jewish Encounter with Deuteronomy.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XIII, 289 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 284. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-150386-3.

Rezensent:

Markus Tiwald

Diese Arbeit ist die »lightly revised version« einer 2009 an der University of Oxford eingereichten Dissertation (supervisor: M. Bock­muehl; examiners: W. Horbury und M. Goodman), die sich zum Ziel gesetzt hat, den Gebrauch des Deuteronomiums in den Schriften des Apostels Paulus auf dem Hintergrund des damaligen Frühjudentums zu untersuchen. Die Arbeit steht damit in der »recent discussion of the Jewishness of Paul« (15) und versteht sich daher auch »as a small contribution to the reintegration of New Testament study with the study of Second Temple Judaism« (16). Federführend ist dabei die momentan heftig diskutierte Frage, ob sich Paulus in seinem Gebrauch des jüdischen Gesetzes von anderen Autoren des Frühjudentums abhebt und inwieweit Paulus das jüdische Gesetz auch weiterhin noch als Autorität verstand.
Die Gliederung der Arbeit ist überzeugend und zielführend: Chapter 1. Introduction (1–17) eröffnet mit der Vorstellung illuminierter Bibelhandschriften des 12./13. Jh.s zum Thema der abrogatio legis durch Paulus. Diesen Verständnisschlüssel – der bis heute noch immer nicht ganz überwunden ist – methodisch anzufragen, hat sich L. zur Aufgabe gesetzt, wenn er versucht, Paulus in die Umwelt des Frühjudentums einzubetten. Allerdings nicht auf das jüdische Gesetz als Ganzes, sondern lediglich auf die Verwendung des Buches Deuteronomium möchte L. fokussieren, was mit dem »distinctive character of Deuteronomy« (13) begründet wird. Wenn diese Begrenzung auch methodisch sinnvoll erscheint, wäre es dennoch gut gewesen, hier eine Übersicht aller bei Paulus verwendeten Zitate aus der jüdischen Bibel zu bieten (in der Tat zitiert Paulus Gen häufiger als Dtn, wobei Jes und Pss noch vor Gen rangieren). Dankenswerterweise verweist L. allerdings darauf, hierbei nicht nur »explicit quotations« sondern auch »implicit quotations«, »re­writings«, »allusions« und »scritptural concepts« (13 f., vgl. auch 119) zu berücksichtigen. Leider verzichtet er jedoch auf eine eigene, präzise Definition dieser Phänomene (und umgeht damit die momentan sehr kontrovers geführte Diskussion).
Chapter 2. The Liturgical Deuteronomy in the Second Temple Period (21–58) spürt der Frage nach, wo und wie man dem Dtn in der damaligen Zeit begegnen konnte. Hier werden kenntnisreich grundsätzliche Fragen geklärt, wie etwa unterschiedliche Textvarianten, das Dtn in frühjüdischen Tefillin und Mesusot sowie Studium und Verlesung des Gesetzes in den Synagogen. Mit viel Hintergrundwissen referiert L. auch über die Theodotos-Inschrift, die Frage, ob es damals schon Lesezyklen in der Synagoge gab und die Ausbildung des vorchristlichen Paulus. Bei Letzterem scheint mir L. zu viel Vertrauen in das Zeugnis der Apg zu legen: Dass Paulus »son of Pharisees« (50; nach Apg 23,6) gewesen sei und »sitting at the feet of Gamaliel« (51; nach Apg 22,3), hat etwa G. Stemberger mit gutem Grund bezweifelt.
Chapter 3. Deuteronomy at Qumran (64–85) hebt die hohe Bedeutung des Dtn für die Qumraniten hervor. Deutlich werden hier die in Qumran üblichen »actualizing interpretations of Torah« (84), etwa in der Weiterführung dtn Gedanken in Texten wie der Tempelrolle oder 4QMMT oder in »rewritten Bible manuscripts« (84), die in ihrer freien Übersetzung und Neufassung Raum für aktualisierende Akzentsetzungen ließen.
Chapter 4. Deuteronomy in Apocrypha and Pseudepigrapha (86–99) widmet sich dem Jubiläenbuch, Pseudo-Philo, Tobit, Baruch und dem Testamentum Mosis. Auch hier dient das Dtn zur aktualisierenden Deutung der Gegenwart: »Deuteronomy’s last chapters are seen to be the blueprint for the course of Israel’s history« (98); auch hier dominiert ein freier Umgang mit der biblischen Vorlage (»Deuteronomy is substancially rewritten«, 98).
Chapter 5. Deuteronomy in the Works of Philo of Alexandria (100–116) bietet einen guten Einblick, wie der jüdische Philosoph seine Ethik und Argumentation mit Zitaten aus Dtn unterfüttert und dabei oft ähnlich wie Paulus vorgeht.
In Chapter 6. Deuteronomy in Paul’s Letters (117–168) kommt L. zum Schluss: »Under the lordship of … Jesus, the last book of Tora did not cease to be for the apostle an authoritative word from God« (117, ebenso 142). Eine Liste expliziter und impliziter Zitate Pauli aus Dtn, erweitert um »a few major allusions« (119, wobei die Kriterien, nach denen diese ausgesucht wurden, m. E. recht vage bleiben; sie sind »a matter of some debate«, wie L. 120 selbst anmerkt), untermauern dieses Kapitel. Besondere Wirkung auf die Theologie des Paulus hinterließ die ethische Interpretation des Dekalogs (127) und die »›circumcision of the heart‹, implicitly understood as opposing a circumcision of the outward flesh« (150). Letztlich gelangt L. zur ansprechenden Konklusion: »Scripture and gospel are mutually interpretative« (167) und: »The re-referentialization of Deutero-nomy’s word of Torah now discloses Christ as the law’s goal« (168).
Chapter 7. Deuteronomy in the Works of Josephus (169–183) offenbart den eher paraphrasierenden Umgang Josephus’ mit Dtn und »a downplaying of the cult« (182).
Chapter 8. Later Trajectories of Interpretation: Sifre and Targums (184–192): Auch wenn diese Schriften erst in der Zeit nach dem Zweiten Tempel entstanden (vgl. die behutsamen Erörterungen zur Datierungsfrage von Targumim, 188), runden sie doch als weitere Wirkungsgeschichte den Parcours ab.
Chapter 9. Conclusion: Paul’s Deuteronomy (193–201) fasst die wichtigsten Parallelen zwischen Paulus und den anderen frühjüdischen Schriften noch einmal knapp zusammen (besonders die freie Umschreibung und die aktualisierende Deutung des Dtn sind hier zu erwähnen) und rekurriert auf das Eingangsbild, die abrogatio legis illuminierter Bibelhandschriften. Dem setzt L. nun ein Kontrastbild als Ertrag seiner Arbeit gegenüber: »[W]e might en­-visage Paul himself as wearing the pointed hat used to identify the Jews, one among many to claim the guiding vision of Deutero­nomy as entrusted to him by Lady Synagoga« (200).
Ein Appendix zu Tefillin und Mesusot in Qumran (203–210), eine lange Literaturliste (211–253) sowie drei Indizes, für alte Quellen (255–280), für moderne Autoren (281–287) und ein Sachindex (288 f.), komplettieren das Werk.
L. bietet eine solide Studie: vom Aufbau schlüssig, von der Me­thodik sauber, vom theologischen Skopus überzeugend, von den Resultaten ansprechend. Als einzigen Kritikpunkt könnte man anmerken, dass die Arbeit letztlich »a rough map of the field of reception which Deuteronomy has created« verbleibt, eine Art methodischer »ground survey« zum »impact crater« des Dtn im Frühjudentum (197). Dort wo L. endet, hätte man nämlich erst so richtig theologisch einsetzen können, wie L. selbst anmerkt: »It is tempting to speculate further about what Paul omits to mention from Deuteronomy«, und »Why does Paul not make use of the ›prophet like Moses‹ topos …?« (199), oder welche frühjüdischen Interpretationsstrategien greift Paulus auf, welche meidet er (200)? Auch auf diese Fragen hätte der Rezensent eine Antwort erhofft, aber wahrscheinlich würde das doch den Rahmen dieser ansonsten sehr erfreulichen Dissertation übersteigen.