Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2011

Spalte:

426-428

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Neukamm, Martin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus. Darwins religiöse Gegner und ihre Argumentation.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 400 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Religion, Theologie und Naturwissenschaft. Religion, Theology, and Natural Science, 19. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-525-56941-2.

Rezensent:

Dirk Evers

Das zu besprechende Werk ist ein Sammelband, der der Auseinandersetzung mit religiös motivierten Gegnern der Evolutions­theo­rie gewidmet ist. Herausgegeben hat ihn Martin Neukamm, laut Klappentext Chemie-Ingenieur an der Technischen Universität München und seit 2004 Geschäftsführer der AG Evolutionsbiologie im Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin. Von Neukamm stammen auch die meisten der Beiträge. Erschienen ist der Band, der sich an »Schüler, Lehrer, Biowissenschaftler, aufgeklärte Christen, Journalisten und alle, die sich mit dem Kreationismus auseinandersetzen wollen oder müssen« (8), richtet, in der Reihe Religion, Theologie und Naturwissenschaft von Vandenhoeck & Ruprecht.
Es ist der Auseinandersetzung um den Kreationismus oder Intelligent Design (= ID) durchaus angemessen, der von diesen Strömungen vertretenen Kritik der Evolutionstheorie auch einmal naturwissenschaftlich zu begegnen – immerhin gerieren sich ihre Vertreter als Alternative zu den Standardtheorien der Evolutionsbiologie und kommen oft mit naturwissenschaftlich argumentierenden Theorien daher. Da mag es für manchen biologisch interessierten oder auch irritierten Leser hilfreich sein, einmal auf verschiedenen Ebenen vorgeführt zu bekommen, wie biologisch abseitig im Grunde alle Argumente des Kreationismus oder des sog. ID sind. Auf der anderen Seite jedoch wird man das Gefühl nicht los, dass eine solche Replik an den eigentlich zur Verhandlung stehenden Grundfragen vorbeigeht: Den Kreationisten geht es eigentlich nicht um die naturwissenschaftliche Forschung. Ob in den hermeneutisch zumeist verfahrenen Debatten wirklich »eine verstärkte öffentliche Aufklärung« (6) helfen kann, scheint zweifelhaft, wenn man sich die Hartnäckigkeit anschaut, mit der bestimmte Kreise die Evolutionstheorie ins Zwielicht zu rücken versuchen. Immerhin, mit diesem Band liegt nun eine Fülle von Material vor, dessen sich Biologielehrer und Religionslehrer gleichermaßen bedienen können, um anhand konkreter Beispiele und Fragestellungen kreationistische Argumentationen kritisch behandeln zu können. Und der polemische Ton der Beiträge ist relativ verhalten und um Sachlichkeit bemüht. Einzig Thomas Junker wirft den Kreationisten »systematische Irreführung« (337) vor– eine Unterstellung, von der sich der Herausgeber in seinen Schlussbemerkungen ausdrücklich distanziert (360).
Der Band beginnt mit Ausführungen von Hansjörg Hemminger (Biologie, Psychologie), der die Geschichte des neuzeitlichen Kreationismus nachzeichnet und eine gewohnt solide und kenntnisreiche Darstellung bietet. Es schließen sich Überlegungen von Martin Neukamm und Andreas Beyer (Biologie) zum wissenschaftlichen Status von Kreationismus und ID an. Im Anschluss an Mario Bunge wird aufgezeigt, dass der Kreationismus übliche wissenschaftliche Standards nicht zu erfüllen vermag. Neukamm und Beyer bezeichnen ihn deshalb etwas unglücklich als Parawissenschaft – ein Begriff, der ansonsten entweder im Sinne einer nicht-etablierten Wissenschaft oder einer Wissenschaft vom Para-Normalen verstanden wird. Beides trifft auf Kreationismus und ID nicht zu.
Der zweite Teil des Buches ist dann einzelnen Argumenten gewidmet, die der Kreationismus gegen die Evolutionstheorie gemeinhin vorbringt. So erläutert Martin Neukamm zunächst, in welchem Sinne die Evolutionstheorie einen naturwissenschaftlichen Theorierahmen darstellt, dessen Erklärungsleistungen aufgrund der deduktiven Struktur und der Komplexität der beschriebenen Prozesse eingeschränkt sind, ohne dass aus diesen erkenntnistheoretischen Bedingungen auf einen zweifelhaften wis­senschaftlichen Status geschlossen werden dürfte. Neukamm analysiert im nächsten Kapitel dann auch den Wahrscheinlichkeitsbegriff, der in den Modellen der Evolutionstheorie impliziert ist, und verteidigt die Evolutionstheorie gegen den Vorwurf, sie würde ein extrem unwahrscheinliches Ge­schehen mit ad hoc-Hypothesen zu erklären suchen. Noch ausführlicher setzt sich Neukamm dann mit der Rekonstruktion der Stammesgeschichte auseinander, bei der die Evolutionskritiker immer wieder auf die fehlenden Zusammenhänge im Stammbaum der Lebewesen hinweisen, die sog. missing links. Er macht u. a. am Urvogel Archaeopteryx deutlich, wie der vorhandene Fossilbefund mit der entwick­lungsgeschichtlichen Theorie zusammenstimmt, in der er Gradualismus und Punktualismus abgewogen miteinander verbindet.
Auf neueste Erkenntnisse der Entwicklungsbiologie geht das 6. Kapitel von Hemminger und Beyer ein. Seit den 1980er Jahren ist es zunehmend möglich geworden, durch ein bis in die genetischen Grundlagen hinabreichendes Verständnis der Ontogenese einzelner Individuen kausale Theorien für den Übergang von einem Design zu einem anderen zu entwickeln. Daraus entstand die evolutionäre Entwicklungsbiologie, die das Zusammenspiel von Ge­nen und Merkmalsausbildung so zu beschreiben gelernt hat, dass die Entstehung und Ausdifferenzierung neuer Lebensformen mit innovativer Funktionalität nachvollziehbar wird. Der Chemiker Peter U. Kaiser beschäftigt sich im 7. Kapitel mit der ›chemischen Evolution‹, die für unseren Planeten den Übergang von einfachen Molekülen in der sog. ›Ursuppe‹ bis zum genetischen Code und einfachen Lebensformen und damit die Entstehung des Lebens zu­mindest als mögliches Szenario zu rekonstruieren versucht. Es folgt ein Kapitel zur Makroevolution, in dem Neukamm das Konzept der ›irreduziblen Komplexität‹ des ID, z. B. die Entstehung der Kaskade, die die Blutgerinnung auslöst, entzaubert. Daran schließt sich die Diskussion einiger Standardbeispiele von biologischen Strukturen an, deren Entstehung nach Auffassung der Evolutionsgegner sich prinzipiell nicht evolutionstheoretisch herleiten lassen sollte, sondern die auf geplantes Design zurückgeführt werden müssen.
Es handelt sich um beliebte Beispiele kreationistischer Propaganda, und zwar verschiedene Fallen ›fleischfressender‹ Pflanzen und die bakterielle Flagelle, dem recht gut verstandenen Fortbewegungsmechanismus von Bakterien, bei dem in der Zellwand verankerte fadenförmige Gebilde durch einen komplizierten molekularen Mechanismus in Rotation versetzt werden. In diesen Fällen behaupten die Evolutionsgegner, dass eine allmähliche Entwick­lung dieser komplexen, auf dem Zusammenspiel mehrerer unabhängiger Komponenten beruhenden Mechanismen aus einfacheren Vorformen nicht vorstellbar sei, weil diese nicht funktional hätten sein können. Es wird der Stand der Forschung aufgezeigt und die Methodik erläutert, die Vorstufen und Variationen der nach Auffassung des ID von irreduzibler Komplexität gekennzeichneten Mechanismen zu rekonstruieren erlaubt.
Der dritte Teil untersucht in zwei Kapiteln argumentative, rhetorische und publizistische Strategien des Kreationismus. U. a. nimmt Thomas Junker (Biologie) das umstrittene ›kritische Lehrbuch‹ der Evolutionsgegner unter die Lupe. Im vierten, mit ›Schlussbetrachtung‹ überschriebenen Teil findet sich der einzige theologische Beitrag des Bandes von Christina Aus der Au. Sie arbeitet unter Bezug auf Karl Barth die andersartige Situierung der biblischen Schöpfungsgeschichten im Unterschied zu naturwissenschaftlicher Theorie und Forschung heraus. Etwas unverständlich ist es, warum der sich daran anschließende kurze Beitrag Neukamms zu Mikro- und Makroevolution an dieser Stelle erscheint.
So ist ein Buch entstanden, das sich aus der Sicht der Fachbiologie überaus gründlich und ohne große Polemik mit den biologischen Argumenten der religiös motivierten Evolutionskritiker auseinandersetzt. Man merkt den Autoren die Leidenschaft für ihre Fächer an und kann nachvollziehen, in welch ein wissenschaft­liches Abseits sich Kreationismus und ID dadurch manövrieren, dass sie empirisch ausweisbare Schöpfungsvorgänge unterstellen. Interessant wird der Band vor allem für diejenigen sein, die sich mit den biologischen Zusammenhängen intensiver auseinandersetzen wollen, auf die die Standardargumente der Kreationisten konkret Bezug nehmen. Das könnte z. B. für interdisziplinäre Veranstaltungen an Schule oder Hochschule interessant sein, an denen Biologen und Theologen gemeinsam beteiligt sind. Dabei sind die gebotenen wissenschaftstheoretischen Reflexionen solide, aber we­nig aufregend.
Das Buch ist technisch schön gestaltet mit vielen Abbildungen und Schaubildern. Sehr hilfreich sind die Zusam­menfassungen am Ende eines jeden Kapitels, die schnell und gut über den Inhalt orientieren. Im ausführlichen Anhang des Buchs werden darüber hinaus ein Glossar und ein ausführliches Namen- und Sachverzeichnis geboten.