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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

409-411

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Greschat, Martin

Titel/Untertitel:

Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945–1963.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2010. 454 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-506-76806-3.

Rezensent:

Peter Zocher

Eine wissenschaftlich fundierte, mit der notwendigen Gründlichkeit erarbeitete und auch gut lesbare Geschichte Deutschlands der Jahre nach 1945: Was in der ›profanen‹ Geschichtsschreibung längst vielfach vorliegt, war im kirchengeschichtlichen Bereich bisher ein Desiderat. Martin Greschat hat mit dem hier zu besprechenden Werk den Versuch unternommen, diese Lücke für den protestan­tischen Bereich zu schließen.
Um den vielfältigen Abhängigkeiten und Zusammenhängen gerecht zu werden, in denen die deutschen Protestanten in den sich konstituierenden beiden deutschen Staaten handelten, wirft G. zunächst einen ausgedehnten Blick auf die weltpolitische Ent- wick­lung seit 1945, bevor er dem eigentlichen Gegenstand seiner Darstellung in mehreren Schritten näherkommt. Über die sich ab­zeichnende europäische Teilung und in deren Gefolge die Gründung der beiden deutschen Staaten und ihre frühe innere Entwick­lung führt G. die Leser zum Themenfeld »Kirche und Gesellschaft« und schließlich zur Darstellung des »protestantischen Lebens«. Durch diesen Aufbau vermeidet er von vornherein den Fehler, dieses protestantische Leben und die Rolle der Kirche und ihrer Vertreter im Schnittpunkt zur Gesellschaft etwa nur »aus sich selbst heraus« zu erklären. Rolle und Selbstverständnis des Protestantismus, sein Einfluss auf die Entwicklung in den beiden deutschen Staaten wie auch seine Beeinflussung durch diese Entwicklung werden hier in vorbildlicher Weise mit den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verknüpft. Dabei unterstreicht G., dass es dem Protestantismus sehr wohl gelang, in beiden deutschen Staaten Einfluss auszuüben. Dieser war selbstverständlich unterschiedlicher Natur und Reichweite. So wühlten die wichtigen gesellschaftlichen und politischen Diskussionen im Westen, in die gerade Protestanten an vorderster Stelle involviert waren, wie etwa die um die Wieder-, später auch die atomare Aufrüstung oder den von Adenauer konsequent verfolgten Kurs der Westintegration das ganze Land auf und prägten für mehrere Jahre das politische Klima. In der DDR war es dagegen nur in einem bescheidenen Rahmen möglich, Einfluss auf die Politik zu nehmen; aber versucht wurde es auch dort, und ein Vergleich mit den Verhältnissen in anderen sowjetisch dominierten Staaten zeigt, dass diese Versuche durchaus bemerkbar waren.
Es gelingt G. dabei überzeugend, die ›große Weltpolitik‹ ebenso fundiert darzustellen wie die politischen Verhältnisse in Bundesrepublik und DDR, die in beiden deutschen Staaten betriebene Kirchenpolitik ebenso wie den persönlichen politischen Einsatz von – bekannten wie weniger bekannten – Protestanten oder die hohe Wellen schlagenden Auseinandersetzungen um Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm. Bezüglich der Entwicklung im Westen bilden die schon erwähnten großen Streite einen Mittelpunkt der Darstellung, die aber auch auf die Irritationen um das Kirchliche Außenamt, konkret die Personalie Niemöller, und die zunächst verdeckt geführten Verhandlungen um die Militärseelsorge gebührend eingeht. Bezüglich der Kirchen in der DDR legt G. besonderes Augenmerk auf die verschiedenen Stadien der Beziehung von Staat und Kirche: vom zunächst recht offen betriebenen Kampf gegen die Kirchen über die sich 1953 scheinbar andeutenden Veränderungen und die andauernden Rivalitäten auf dem Gebiet von Jugendweihe und Konfirmation bis hin zu der sich angesichts der Verfestigung der politischen Lage ergebenden Notwendigkeit, sich zu dem nun einmal entstandenen Staatsgebilde DDR in angemessener Art und Weise zu positionieren. Dies war umso mehr erforderlich, als man den als Lehre aus dem Kirchenkampf nach 1945 reklamierten »Öffentlichkeitsanspruch« der Kirche in beiden deutschen Staaten aufrechterhalten wollte. G. beschreibt dessen je unterschiedliche konkrete Ausformungen z. B. im Blick auf den Religionsunterricht bzw. die Evangelische Unterweisung, die im Westen ausgehandelten neuen Staatskirchenverträge, besonders den Loccumer Vertrag, die zunächst gemeinsam, dann notgedrungen in Ost und West getrennt stattfindenden »Deutschen Evangelischen Kirchentage« und nicht zuletzt die vielen neu gegründeten Evangelischen Akademien, deren Tagungen immer wieder auch Impulse für die großen innenpolitischen Themen und Reformen der 1950er Jahre gaben, etwa den Lastenausgleich oder die Eherechtsreform. Er schließt mit einem Blick auf die im Darstellungszeitraum national, europäisch und auch weltweit an Bedeutung stark zunehmende Ökumene.
Es ist in sich stimmig, dass die Darstellung in den frühen 1960er Jahren endet, als die politischen Grundentscheidungen gefallen waren, als man sich mehr und mehr an die Existenz zweier deutscher Staaten gewöhnt hatte und dies als eine Art ›Normalität‹ zu sehen begann, auf die man sich nun um der Menschen willen einzustellen hatte.
Ein Verdienst des Werkes ist, das es G. in der Regel konsequent gelingt, auch bei sehr umstrittenen Auseinandersetzungen wie denen um die Wiederbewaffnung, die Militärseelsorge und die Westintegration im Ganzen jeweils beide Seiten ausgewogen zu Wort kommen zu lassen. Er erliegt kaum der Versuchung, seine Sympathie oder Antipathie bestimmend für die Schilderung werden zu lassen, sondern ist bemüht, die Motive und Absichten aller Akteure sachlich zu erläutern. Ein wohltuendes Vorgehen – gerade bei einem Überblick über eine Zeit so voller polemisch geführter Streitigkeiten.
Ein Monitum soll am Ende nicht verschwiegen werden: Der Untertitel führt ein wenig in die Irre, wenn er suggeriert, es würden hier die Jahre 1945–1949 ähnlich intensiv traktiert wie die folgenden. Die unmittelbare Nachkriegszeit aber wird in diesem Buch lediglich hin und wieder gestreift; ausführlicher wird nur die weltpolitische Entwicklung hin zum Kalten Krieg behandelt. Allerdings kann G. hier auf seinen schon länger vorliegenden Band verweisen: »Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit« (Stuttgart u. a.: Kohlhammer, 2002). Man hätte die Jahreszahlen im Un­tertitel trotzdem anpassen sollen.
Das Buch ist flüssig geschrieben und mit zahlreichen Abbildungen versehen; für die an den Quellen Interessierten wäre es hilfreich gewesen, die – ganz überwiegend kurzen – An­merkungen nicht ans Ende zu stellen, was die Lesbarkeit kaum beeinträchtigt hätte. Im Anhang findet sich neben dem allein schon eine Fundgrube darstellenden Quellen- und Literaturverzeichnis ein zuverlässiges Personenregister. Ein Sachregister fehlt; wer über das Inhaltsverzeichnis schnell nach Informationen etwa zum »Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU« oder zum »Deutschen Evangelischen Kirchentag« suchen möchte, wird dies vermissen.
Als Fazit bleibt nur festzustellen, dass G. mit dem hier besprochen wie mit dem oben erwähnten Titel und seinem ebenfalls 2010 in der Reihe »Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen« erschienenen Band, der – deutlich knapper gefasst – die ganze zweite Hälfte des 20. Jh.s umschließt, ein Werk geschaffen hat, das die Erforschung der Geschichte des deutschen Protestantismus nach 1945 auf eine neue Basis stellt; an ihm wird die weitere Forschung nicht vorbeigehen können.