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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

198-200

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Andersen, Svend

Titel/Untertitel:

Macht aus Liebe. Zur Rekonstruktion einer lutherischen politischen Ethik.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2010. XII, 329 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 149. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-11-021629-5.

Rezensent:

Michael Coors

Mit diesem Buch legt der wohlbekannte Ethiker und Lutherexperte Svend Andersen den streitbaren Versuch einer Rekonstruktion der politischen Ethik des Luthertums im Geiste des politischen Liberalismus vor. Dafür setzt er bei einer gründlichen Interpretation von Luthers Obrigkeitsschrift ein. A.s Ausführungen sind dabei von erfrischender Klarheit sowohl des sprachlichen Duktus als auch der Argumentation geprägt. Erfrischend ist auch, dass A. gar nicht erst versucht, die Fremdartigkeit der politischen Ethik Luthers zu vertuschen, sondern diese in ihrem zeitlichen und sozialen Kontext wahrnimmt. So gesteht A. ohne Umschweif zu, dass die von Luther vorausgesetzte Unveränderbarkeit einer feudalen Herrschaftsordnung »als von der Geschichte falsifiziert« (81) zu betrachten ist, und sucht angesichts dessen, diejenigen Grundgedanken der Ethik Luthers zu identifizieren, die dazu beitragen können, eine lutherische politische Ethik für unsere Gegenwart zu rekonstruieren (ebd.). Es geht A. also um die konstruktive Wiedergewinnung der politischen Ethik Luthers für die politisch-ethischen Diskussionen der Gegenwart. A. macht bei Luther eine im Kontext seiner allgemeinen Ethik verankerte politische Ethik aus, die politische Herrschaft als eine Form der »Machtausübung aus Liebe« (45) begreift. Für eine lutherische politische Ethik ist »das politische Handeln eines Christen ein Fall seines Handelns zum Besten anderer« (44). Weil der Christ seinen Nächsten liebt, will er sein Bestes: Dafür aber im öffentlichen Raum zu sorgen, ist nach Luther die Aufgabe der Obrigkeit, der der Christ darum aus Nächstenliebe Gehorsam schuldig sei. Dabei ständig vorausgesetzt ist Luthers Unterscheidung von den zwei Reichen bzw. Regimenten. Die Verbindung zwischen den unterschiedlichen Sozialformen geistlichen und weltlichen Lebens besteht eben in der Nächstenliebe, die in ihrer Logik als politisch-soziale Liebe dem allgemeinen naturrechtlichen Gebot der goldenen Regel entspricht (36).
Im zweiten Teil geht A. dazu über, sich den Transformationen des lutherischen politischen Denkens in der politischen Moderne zuzuwenden: »Wie hat die lutherische Theologie auf die politische Modernisierung reagiert – ist es ihr gelungen, die politische Mo­derne theoretisch zu integrieren?« (90) Was die politische Moderne ausmacht, wird dafür zunächst in einer dichten Interpretation der Philosophie Kants dargestellt. Dem folgen Untersuchungen zur politischen Ethik H. L. Martensens, N. F. S. Grundtvigs und S. Kierkegaards. Äußerst hilfreich ist dabei, dass A. hier immer wieder auf exemplarische Themen zurückkommt, die er schon in der Lutherinterpretation thematisiert hat (Krieg, Tyrannenmord, sozialer Aufstand). Am Ende dieser überaus kundig geschriebenen Studien steht allerdings das Ergebnis, dass es keinem dieser Denker gelungen ist, »die Demokratie positiv in eine lutherische politische Ethik zu integrieren« (210). Demgegenüber scheint E. Troeltsch nun als Gegenbeispiel eingebracht zu werden: Immerhin gelingt es ihm, die Staatsform der Demokratie positiv zu integrieren, allerdings um den problematischen Preis einer radikalen Subjektivierung der christlichen Liebesethik, die damit nicht mehr mit einer Soziallehre verbunden werden kann. Gerade darum aber kann Troeltsch nach A. die »profane Eigenständigkeit des Politischen nicht ganz anerkennen. Christliche politische Ethik heißt bei ihm … die Durchdringung der staatlichen Sittlichkeit mit genuin christlicher Ethik« (242). Im Zuge der Darstellung der unterschiedlichen Positionen lutherisch- theologischer Ethik in der politischen Moderne zeigt sich immer wieder, dass das entscheidende Kriterium der Einordnung und wohl auch Bewertung dieser Positionen für A. genau diese Frage ist: Wird der Unterscheidung zwischen den beiden Reichen, zwischen weltlichem und geistlichem genügend Rechnung getragen? Erst vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung spielt dann die Konzeption der Machtausübung aus Liebe eine Rolle, weil sie eine theologische Deutung des weltlichen und damit des Politischen bieten soll, die dieses als theologische Deutung nicht einfach vereinnahmt, sondern in seiner Eigenständigkeit anerkennt. Als hermeneutische Brücke dient dabei die Figur der Analogie zwischen dem natürlichen Gebot der Goldenen Regel und dem christlichen Gebot der Nächstenliebe.
Dass diese theologische Konzeption Luthers unter den Bedingung der politischen Moderne offensichtlich nicht konstruktiv rezipiert bzw. jeweils erheblich transformiert wurde und sich dabei überwiegend kritisch zur Demokratisierung verhielt, ist eine Beobachtung A.s, die eigentlich dazu herausfordert, nach den Gründen zu fragen, die diese Entwicklung im lutherisch-theologischen Denken selbst haben könnte. Statt nun allerdings diesem Gedanken nachzugehen, der auch auf das hinweisen könnte, was sich in Luthers theologisch-politischer Ethik gegenüber der politischen Moderne sperrt (vielleicht teilweise sogar konstruktiv), zielt A. auf eine Reinterpretation der lutherischen Ethik im Geist des politischen Liberalismus à la John Rawls. In Rawls’ Unterscheidung zwischen einem öffentlich politischen Raum und den umfassenden Lehren, die im politischen Raum zu einem übergreifenden Konsens verbunden werden sollen und zu denen auch die Religionen gehören, sieht A. ein Pendant zur Unterscheidung der zwei Reiche im Sinne Luthers (z. B. 306). In der politischen Öffentlichkeit gelten nur Argumente, die von den beteiligten Parteien reziprok anerkannt werden können, aber zugleich können diese Argumente selber auch in religiösen Vorstellungen (als einer Form umfassender Lehren) begründet sein. A. versteht seine Rekonstruktion einer lutherischen politischen Ethik als den Versuch, das, was der politische Liberalismus als freistehende Konstruktion bietet, in der umfassenden Lehre christlichen Glaubens perspektivisch zu begründen.
Dabei wäre nun an vielen Stellen im Detail näher nachzufragen. Ich deute das hier nur anhand eines zentralen Topos an: Verhalten sich die Denkfigur der »Machtausübung aus Liebe« und die von Rawls entwickelten zwei Grundprinzipien der Gerechtigkeit wirklich wie analoge Entsprechungen (301 f.)? Das Prinzip der Machtausübung aus Liebe ist ein inkludierendes Prinzip der Fürsorge: Herrschaft heißt – und das ist im historischen Kontext Luthers durchaus wichtig zu betonen –, dass die Untertanen dem Herrscher von Gott zur Fürsorge anvertraut sind. Darum kann der Untertan seinerseits sich wiederum auf den Herrscher verlassen. Rawls Prinzipien der Gerechtigkeit aber basieren auf der Logik der Reziprozität der Argumente und abstrahieren darin bewusst von der ethi schen Fürsorge eines Herrschers als einem Handlungsgut. Das Argumentationsprinzip der Reziprozität der Argumente dient dabei dazu, die Validität von Argumenten in einem öffentlichen Diskurs zu prüfen: Es ist ein Ausschlusskriterium, das eben auch zur Folge hat, dass theologische und religiöse Begründungen aus dem öffentlich-politischen Diskurs ausgeschlossen werden, sofern sie sich nicht in reziprok anerkennbare Begründungen übersetzen lassen. Und ebendas spiegelt sich dann auch in den Gerechtigkeitsprinzipien des politischen Liberalismus – das aber ist doch etwas ganz anderes als die Begründung des Politischen auf den inkludierenden Prinzipien der Fürsorge und der Nächstenliebe.
Dass es eine Art Mehrwert der theologischen politischen Ethik gibt, deutet sich bei A. aber dennoch an, z. B. dort, wo er zugesteht, dass die »Ethik der Nächstenliebe nicht ganz und gar mit einer universalen Ethik« identisch ist (302), oder dort, wo er das proviso als eine Notlösung kennzeichnet, die es erlaube religiöse Argumente im öffentlichen Raum unter dem temporalen Vorbehalte der späteren Ablösung durch reziproke Argumente zu verwenden (275). Hier mag man fragen, ob es nicht auch Sachgründe dafür gibt, dass solch eine Notlösung notwendig wird. Liegt das nicht auch an einem irreduziblen Mehrwert der theologischen Ethik des Politischen, der in dem Versuch, diese in reziprok anerkennbare Argumente zu übersetzen, gerade verloren geht und der nach weitergehender theologischer Explikation verlangt? Das freilich könnte darauf hinweisen, dass der übergreifende Konsens zu viel der Einheit verlangt und zu wenig Raum für produktive politische Differenzen lässt.
Das Buch fordert dazu auf, weiter und tiefer nach theologischen Deutungen des Politischen und der politischen Ethik zu fragen – über A.s Buch hinaus sicher auch in kritischer Auseinandersetzung mit der lutherischen Tradition, aber auch andersherum: in kritischer Auseinandersetzung mit dem politischen Liberalismus aus dem Geiste lutherischer Theologie. Das freilich spricht nicht gegen dieses Buch, dessen Verdienst ohne Zweifel darin besteht, die theologische Frage nach einer politischen Ethik in großer Klarheit in die gegenwärtige Diskussion einzubringen.