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Ausgabe: | Januar/2011 |
Spalte: | 93-95 |
Kategorie: | Philosophie, Religionsphilosophie |
Autor/Hrsg.: | Ward, Graham |
Titel/Untertitel: | The Politics of Discipleship. Becoming Postmaterial Citizens. |
Verlag: | London: SCM Press; Grand Rapids: Baker Academic 2009. 317 S. 8°. Kart. £ 25,00; US$ 24,99. ISBN 978-0-334-04350-8 (SCM Press); 978-0-8010-3158-8). |
Rezensent: | Michael Coors |
»This is a political book. It is not a polite book.« (21) Diese das erste Kapitel des Bandes eröffnenden Worte sind programmatisch: Politik ist für Graham Ward keine Angelegenheit von Höflichkeit, sondern sie lebt von der gegenseitigen Herausforderung zum Streit und zum Konflikt. Dass diese Streitkultur zugunsten einer ›Null-Dialektik‹ verloren geht, ist nach W. eines der Grundprobleme der postmodernen Demokratien (70.162). In dieser Situation will W. aufzeigen, dass der christliche Glaube einen gesellschaftlichen und politischen Unterschied ausmacht, weil die Praktiken des christlichen Glaubens politische Differenz erzeugen und damit ein Mittel gegen die Gefahr der Entpolitisierung unserer Gesellschaften sind.
Es ist die eschatologische Ausrichtung des Glaubens, die den Christen eine Stellung zugleich in der Welt als auch eine diese Welt und Gesellschaft transzendierende Stellung gibt (254). Diese es-chatologische Spannung christlichen Glaubens erzeugt seine politische Wirksamkeit, die sich allerdings nicht einfach in den politischen Betrieb einfügt, sondern vielmehr darin besteht, im zivilgesellschaftlichen Diskurs zu einem Ringen und Streiten um die Gestaltung des guten Lebens mit anzustiften. Der so begriffene christliche Glaube sollte darum nach W. auch die Pluralität und Diversität (auch die religiöse) moderner Städte positiv bewerten und sich in das gemeinsame Ringen positionell einbringen, anstatt sich auf Affirmation oder bloße Kritik des Gegebenen zu beschränken (217 f.): »Let us not be afraid of public contestation« (162)! W. schreibt kein höfliches, sondern ein polemisches Buch: Er will zeigen, dass christlicher Glaube selbst polemisch und darum politisch ist. Christlicher Glaube, der aus der Hoffnung auf das Reich Gottes lebt, bewertet die gegenwärtige politische Wirklichkeit schonungslos kritisch, ohne dass er hoffnungslos pessimistisch oder weltabgewandt wäre.
Die Voraussetzungen für dieses theologisch-politische Programm entwickelt W. im ersten Teil seines Buches in einer dichten Interpretation der gegenwärtigen Gesellschaft und ihres Verhältnisses zur Religion (17). Seine Untersuchung bewegt sich dabei in faszinierender Weise zwischen den Disziplinen Soziologie, politische Theorie und Philosophie. Geleitet von den Fragen nach De-mokratieverständnis, Globalisierung und Postsäkularität bietet W. eine Reihe kritischer und aufschlussreicher Analysen. Diese können allerdings nicht immer überzeugen. So sind die Untersuchungen zur Krise der liberalen Demokratie und der sog. »postdemocratic condition« zwar durchaus aufschlussreich, und W. kann überzeugend zeigen, dass das Aufkommen nationalistischer Strömungen (Das Verlangen nach einer »Rückkehr des Königs«) tief in der Spannung zwischen liberalem Prinzip und Demokratieprinzip verankert ist (63 ff.), seine These jedoch, »that the historical development known as globalization is the product of a globalism issuing from Christian theology and its ecclesial history« (79), ist zwar aufschlussreich, aber es bedürfte hier einer sehr viel breiteren empirischen Grundlage, um diese weitreichende These entsprechend zu stützen. Ähnliches gilt für die provokante These, dass der ideologische Säkularismus eine »self-fulfilling prophecy« sei (128). Wichtiger als diese Thesen ist allerdings die neue Sichtbarkeit der Religion, die die Säkularisierungsthesen zumindest vor eine Herausforderung stellen: Diese neue Sichtbarkeit zeigt sich im Fundamentalismus, in der neuen Öffentlichkeit der Religion, aber auch in der »Wiederverzauberung der Welt« (Z. Baumann) durch moderne Mythen wie z. B. Harry Potter, dem Herrn der Ringe o. Ä. (147 ff.). So sieht W. die gegenwärtige Kultur der westlichen liberalen Gesellschaften in zahlreichen Spannungen gefangen: auf der einen Seite die Gefahr einer Entpolitisierung der Gesellschaft durch Marktradikalisierung, Globalisierung und Individualismus, auf der anderen Seite eine (ambivalente) neue Sichtbarkeit der Religion und zivilgesellschaftliche und politische Strömungen, die postmaterialistische Werte (Menschenrechte, persönliche Freiheiten, Gemeinschaft etc.) in den Vordergrund rücken (164). W.s Ziel ist die Synthese dieser positiven Gegenbewegungen: die Begründung des Postmaterialismus aus dem Geist der Theologie. Allein die theologische und metaphysische Begründung menschlichen Handelns in einem eschatologischen Humanismus und einer eschatologischen Ekklesiologie, wie sie W. im zweiten Teil des Buches entfaltet, vermag nach W. dafür zu sorgen, dass postmaterialistische Werte sich effektiv aus dem Sog einer sich zunehmend individualisierenden und an Marktleistung orientierten Gesellschaft befreit werden: »Postmaterialism is just not postmaterialist enough« (82).
Zu diesem Zweck bezieht W. sich im zweiten Teil des Buches auf die Kirche. Die Kirche wird dabei nicht einfach als ein Gegenüber zur Welt begriffen, sondern Kirche und Welt sind ineinander verwoben und aufeinander bezogen. Kirche ist in W.s eschatologischer Ekklesiologie »an unfinished project« (25): Sie steht in einem fortwährenden Ringen um den Glauben und ist stets die Kirche, die als eschatologische erst vollendet wird (26). Gerade in diesem Ringen und der darin sich manifestierenden Offenheit hin auf das Eschaton markiert die Kirche aber »a public and material manifestation of that which trascends the world« (24) und damit den Ansatzpunkt für eine theologische Interpretation der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeiten und der politischen Relevanz christlichen Glaubens für dieselbe. Der Bezug auf die Kirche als einem dynamischen Geflecht von Praktiken und Handlungen (201) ist für W. wichtig, weil es hier nicht um eine bloß theoretische Aufgabe geht, sondern darum zu verstehen und darzustellen, wie christliche Praktiken eine metaphysische Deutung der Wirklichkeit inkorporieren und vollziehen, die auf der eschatologischen Ausrichtung des Glaubens beruht. In Anlehnung an Metz und Agamben geht W. von dem Begriff des eschatologischen Rests (»eschatological remainder«) aus, der zum einen eine gewisse Kontinuität zwischen der gegenwärtigen Wirklichkeit des erwarteten himmlischen Königreichs und seiner eschatologische Realisierung herstellt, der zum anderen aber auch eine Diskontinuität anzeigt: das eschatologische Reich Gottes ist in der Gegenwart nicht voll verwirklicht – auch nicht in der Kirche (170). Vielmehr ist christliche Jüngerschaft nicht nur kritisch gegenüber den politischen Mächten dieser Welt, sondern auch gegenüber der Macht in der Kirche (285). Hier wären allerdings noch weitere Unterscheidungen im Kirchenbegriff angebracht: Zwar geht W. von einem komplexen Begriff der Kirche aus, der auf einer theologischen Handlungstheorie (201) und der paulinischen Leib-Christi-Ekklesiologie aufbaut (z. B. 257 f.), aber die Kirche ist eben auch der Ort, an dem die eschatologische Dimension der Jüngerschaft sich in der Welt realisiert. Hier verweist W.s Buch auf eine Reihe von weiterführenden Problemen und Fragen bezüglich einer politischen Ekklesiologie, die einer weitergehenden Thematisierung bedürften. Wichtige Hinweise für die Bearbeitung dieser Fragen bieten W.s dichte Interpretation des Gebetes als der politischen Praktik der Jüngerschaft (280 ff.) und seine theologisch-politische Auslegung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (269 ff.), die überzeugend die politische Dimension christlicher Liebe herausarbeitet (271).
W. legt in diesem Buch eine Reihe äußerst dichter und eng miteinander verwobener Studien zur theologischen Gegenwartsdeutung und zur theologischen Theorie des Politischen vor, die nach einer weit intensiveren Auseinandersetzung verlangen, als es in solch einer knappen Rezension möglich ist. Auch wenn manche These im Blick auf die gebotenen Begründungen eher zu groß erscheint, ist das Buch gerade in seinem zweiten, im engeren Sinne theologischen Teil wegweisend für die gegenwärtig drängenden Fragen nach dem Verhältnis von Politik und Religion.