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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

171–173

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Assel, Heinrich

Titel/Untertitel:

Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance –­ Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. 528 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 72. geb. DM 178,-. ISBN 3-525-56279-9.

Rezensent:

Martin Seils

Es war an der Zeit, daß der sog. Lutherrenaissance als einer eigenständigen auch systematisch-theologischen Strömung in der Theologiegeschichte unseres Jahrhunderts eine umfassendere Untersuchung zuteil wurde. Die bei Friedrich Mildenberger gearbeitete Dissertation Heinrich Assels sieht die Lutherrenaissance als den "anderen Aufbruch" neben demjenigen der Dialektischen Theologie an. Als Kristallisationsbereich der Lutherrenaissance wird dabei parallel zur Sammlung der Dialektischen Theologie um die Zeitschrift "Zwischen den Zeiten" die von Carl Stange 1923 begründete "Zeitschrift für Systematische Theologie" herausgestellt. Unter ihren Autoren meint A. Karl Holl, Emanuel Hirsch und Rudolf Hermann als besonders signifikante Repräsentanten der Lutherrenaissance ausmachen zu können. An ihnen schildert er den "anderen Aufbruch" zwischen 1910, dem Jahr der ersten Beschäftigung Holls mit Luthers Römerbriefvorlesung, und 1935, dem Zeitraum der ersten Phase des "Kirchenkampfes", in dem ­ wieder in gewisser Weise parallel zur Entwicklung tragender Gestalten der Dialektischen Theologie ­ Hirsch zum theologischen Optanten und Ratgeber der nationalsozialistischen Kirchenpolitik und Hermann zum akzeptierenden Teilnehmer an der Barmer Bekenntnissynode wurde.

A.s darstellerische Intentionen gehen also zunächst auf die theologiegeschichtliche sowie die mit ihr verbundene kirchenpolitische und auf die systematisch-theologische Entwicklung und Bedeutung der Lutherrenaissance. Gleichzeitig hat er allerdings ein eigenes systematisch-theologisches Anliegen. Er möchte zeigen, daß sich bei Hirsch und Hermann eine einerseits "subjektivitätstheologische" und andererseits "sprachtheologische" Entfaltung der Hollschen Ansätze (auch unter dem Bemühen, deren Aporetik zu überwinden) vorfindet, wobei er der dezidierten Meinung ist, daß die für die Lutherrenaissance zentrale Neubesinnung auf die Rechtfertigungserkenntnis Luthers unter idealistisch-subjektivitätstheologischen Auspizien (also bei Hirsch) zum Scheitern verurteilt war und nur unter sprach- und worttheologischen Voraussetzungen (also bei Hermann) sach- und zeitgemäß erfolgen konnte.

Die außerordentlich dichte, gesichtspunktreiche und reflexionsvielfältige Holl-, Hirsch- und Hermanndarstellung A.s kann hier kaum ansatzweise wiedergegeben werden, weil sie von der vorgestellten Komplexität der gesichteten Sachverhalte lebt und sich deshalb einem Kurzreferat eigentlich nicht unterziehen läßt. Zu Holl stellt A. u. a. fest, daß bei ihm ­ im Gewissensbegriff konzentriert ­ die menschliche Fähigkeit, das Rechtfertigungsurteil Gottes mit einem entsprechenden Gewißheitserlebnis anzunehmen, in vorgängigen, dem Rechtfertigungszuspruch vorausgehenden inneren Gewissenserlebnissen und geistlichen Gemeinschaftsbezügen begründet ist. Holl gerät dabei einerseits in den Zirkel von gewißheitgebender göttlicher Vorherbestimmung und aneignender subjektiver Gewissenserfahrung und andererseits in seiner Ansicht nach der unsichtbaren Rechtfertigungsgemeinschaft dienliche Staats- und Volksbezüglichkeiten, die schöpfungs- und ordnungstheologisch untermauert werden. Als besonders schwierig stellt A. dabei Holls Unterscheidung zwischen den "Starken" mit einer entsprechenden Erlebnisfähigkeit und den "Schwachen", die im Grunde zu voller Rechtfertigungsgewißheit und entsprechender Gliedschaft in der Rechtfertigungsgemeinschaft nicht in der Lage sind, heraus.

Dies alles wird bei Hirsch ­ so A. ­ auf der Basis einer von Fichte bestimmten idealistischen Subjektivitätsphilosophie mit- und neugedacht. Konstitutiv ist das im Gewissenserleben sich kundtuende Ichbewußtsein, das jedoch des Nicht-Ich (bei Fichte) oder der Gewissensgemeinschaft der anderen (bei Hirsch) als Ermöglichung und Anstoß sowohl zum Gotteserleben als auch zur Pflichterfüllung bedarf. Entscheidend ist, daß Hirsch den Fichteschen "Anstoß" gesetzestheologisch interpretiert und dabei mehr und mehr völkische, später auch völkisch-rassische Gemeinschaftsbezüge dominierend werden läßt, wobei Holls "Starke" nicht so sehr mit systematischer, wohl aber mit zeitlich-situationeller Veranlassung in völkische Führerpersönlichkeiten hineinprojiziert werden. Hirschs subjektivitätstheologischer Ansatz wird zirkulär, weil er der Gewissensansprechbarkeit durch das Rechtfertigungsevangelium eine gottunmittelbare oratio mentalis im Gewissensgrund immer schon vorausgehen sieht, und er wird zeitgeschichtlich katastrophal,weil die intersubjektiven Gesetzesansprüche in völkisch-politische Verwirklichungsdimensionen überführt werden, wobei Sündigkeit als schöpfungstheologisch unvermeidbar, wiewohl der vergebenden und erneuernden Rechtfertigung bedürftig, interpretiert wird.

Anders ist es bei Hermann: Auch er setzt ­ nach A. ­ "subjektivitätstheologisch" an,und zwar bei Schleiermachers "schlechthinigem Abhängigkeitsgefühl". Jedoch erkennt er in Auseinandersetzung mit der Problematik von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit in Schleiermachers Bewußtseinsphilosophie und dessen sprachphilosophischen Erwägungen zum "individuellen Symbolisieren" die hier drohenden Zikulärstrukturen. Gleichzeitig erfaßt er in Aufarbeitung der Lutherschen Rechtfertigungstheologie deren Bestimmtheit durch worttheologische Bezüge in der Verheißungsanrede Gottes, die der Aufnahme in assertorisch-bekennender Gebetssprache bedarf. Er entfaltet Rechtfertigungstheologie als "Logik des Gesprächs zwischen Gott und Mensch", in der der Mensch seiner Abhängigkeit als Gestelltsein der eigenen Zeitlichkeit in die Zeit Gottes innewird, wobei diese Zeit durch die einmalige Geschichte Jesu Christi im Rechtfertigungsglauben als Zeit der Vergebung und eines erneuernden Werdens bestimmt wird. Hermanns bekenntniskirchliche Option ergibt sich aus seiner worttheologischen Grundeinstellung. Dabei ist von Bedeutung auch dies, daß Hermann die geschichts- und volkstheologischen Gesetzesprojektionen des Neuluthertums nicht geteilt hat und bei dem Luther der Antinomerdisputationen eine gewisse legalistische Überformung seiner ursprünglichen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium befürchtete. "Als sprachtheologisch rechenschaftsfähige Offenbarungs- und Rechtfertigungstheologie" hat Hermanns Theologie nach Assel "eine theologische Innovationskraft,die noch nicht erschöpft ist" (489).

Die Arbeit A.s ist von Thema und Durchführung her als ein "großer Wurf" zu bezeichnen. Dabei ist sicherlich mit von Bedeutung, daß A. neben Holl und Hirsch das theologische Wollen und die theologische Leistung Rudolf Hermanns herausstellt und ihm damit den gebührenden Platz einräumt. Es ist auch von Bedeutung, daß A. in erheblichem Maße neue Quellen erschließt (zu Holl z. B. die umfangreiche Briefsammlung Robert Stupperichs; zu Hirsch die Briefe an Wilhelm Stapel; zu Hermann dessen lebenslang geführte wissenschaftliche Tagebücher). Freilich ist die Überprüfbarkeit seiner Ausführungen dadurch notwendigerweise eingeschränkt. Soweit mit veröffentlichtem Material vergleichbar, wird A.s Darstellung schlüsselhafter Züge und Entwicklungen der Lutherrenaissance als weithin verantwortbar, jedenfalls als grundhaft diskussionswürdig zu gelten haben.

Allerdings, Diskussionen wird es geben. Wir deuten dies hier nur in Beziehung auf die interpretatorische Gesamtansicht und die Hermann-Interpretation A.s an. A. legt völlig offfen, daß seine Problemsicht mitbestimmt wird von der philosophischen Idealismus- und Subjektivitätskritik Dieter Henrichs und der sprachphilosophisch grundgelegten Theorie des "kommunikativen Handelns" von Jürgen Habermas. Er verwendet diesen Gesamtraster zurückhaltend, aber doch spürbar. Muß es aber so sein, daß eine subjektiv gegründete Reflexionsstruktur, wenn sie zirkulär ist, auch in theologischen Zusammenhängen schon defizitär oder absurd ist?

Das wird A. nicht meinen, vielmehr wird er so etwas meinen wie dies, daß im Erleben Erlebtes bewußtseinsreflexiv entweder anscheinend dezisiv behauptet werden muß oder auf das bloße psychische Erlebtwordensein zurückfällt. Auf Erlebnisse kann man keine Gewißheiten gründen. Wirklich nicht? Das theologische Feld, das damit betreten wird, ist ziemlich weit. Ist es auch angemessen, Hermann als "Sprachtheologen" vorzustellen, wiewohl Hermann ­ dies sei (unbeschadet seiner bei A. richtig georteten Bestimmtheit durch Hönigswald in dieser Sache) versichert ­ auf "sprachtheologische" Grundgedanken nicht in irgendeiner ausführlicheren Weise thematisch oder prinzipiell eingegangen ist? Seine Zeittheologie stand entschieden im Vordergrund, nicht eine Sprachtheologie.

Es wird und muß Diskussionen geben. Dabei wird sich A.s Buch aber als eine gründlich gearbeitete, großräumig gedachte, den "anderen Aufbruch" deutlich zur Sprache bringende und auch die Größe und Grenze einer theologischen Entwicklung im Deutschland dieses Jahrhunderts bewußtmachende wichtige Arbeit bewähren.