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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1396-1398

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schregle, Franz

Titel/Untertitel:

Pastoral in ländlichen Räumen. Wegmarkierungen für eine landschaftliche Seelsorge.

Verlag:

Würzburg: Echter 2009. 351 S. m. Abb. u. Ktn. gr.8° = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 77. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-429-03064-3.

Rezensent:

Thomas Schlegel

Nachdem in Kultur- und Sozialwissenschaften schon seit einigen Jahren dem »Raum« erhöhte Aufmerksamkeit zukommt, möchte Franz Schregle mit der vorliegenden Arbeit einen praktisch-theo­logischen Beitrag zu dieser topologischen Wende (spatial turn) leisten. »Der wissenschaftliche Neuigkeitsfaktor«, so Sch., bestehe darin, »dass Kirche nicht als Organisation im Horizont von Zeit und Entwicklung, sondern Kirche als Raum im Horizont der Frage nach dem Entstehen kirchlicher Räume zum Ansatzpunkt wissenschaftlicher Untersuchung gemacht wird« (26).
Die Dissertation, die 2007/8 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Benediktbeuern angenommen und von Martin Lechner betreut wurde, erschöpft sich freilich nicht in raumtheoretischen Erwägungen. Der konkrete Auftrag der Diözese Augsburg, die Entstehung von Pfarreizusammenschlüssen in ländlichen Räumen kritisch zu begleiten, stellt die andere Motivation dieser Studie dar.
Im ersten, eher historisch fragenden Kapitel werden Seelsorgekonzepte seit 1945 auf ihre impliziten Raumvorstellungen befragt. Es identifiziert vier zentrale Raumbilder, oder besser Raumbildklassen, denn Sch. listet eine Fülle an Entwürfen auf, die Metaphern für ländliche Pastoral bieten: zunächst die Metapher »Kirche als Herz des Dorfes« (31), die nach dem Krieg bestimmend war, dann »Kirche als lebendige Gemeinde« (44) im Gefolge von Vaticanum II und schließlich »Kirche als sozialer Organismus« (72) der 1990er Jahre sowie die zeitgenössische Idee einer »Kirche als Netzwerk« (91).
Zur kritischen Sichtung des Sammelsuriums an Bildern, Ideen und Vorstellungen benötige man, so Sch., ein »diagnostisches Instrument«, was er in der »Raumvorstellung« von Martina Löw gefunden habe. Deren maßgebliches Werk »Raumsoziologie« aus dem Jahre 2001 wird im zweiten Kapitel paraphrasiert. Im Kern geht es dabei um die Einführung in zwei divergierende Ansätze: Ist Raum stärker als ein Behälter (»container«) zu denken, der Natur und Kultur umschließt und determiniert (absolutistische Denkfigur), oder als eine relative Struktur, die durch Gegenstände und das Handeln des Subjektes erst konstituiert wird (relativistische Denkfigur)? Dieses Schema auf die oben genannten Bilder der Landpastoral anwendend, kommt Sch. zu dem Schluss, dass die ersten drei dem herkömmlichen absolutistischen Raumdenken verhaftet sind: Sie gehen »von vorgegebenen Strukturen aus und komm[en] dann zum Handeln der Menschen« (150). Auch wenn sich im »Raumbild ›Kirche als Netzwerk‹ … das Reflexionsniveau der Pastoral immer mehr den aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskursen« (158) angleiche und relativistische Vorstellungen integriere, neigt dieses allerdings dazu, »historisch entstandene Räume der Seelsorge abzuwerten« (158). Fazit: »Meiner Auffassung nach müsste ein neuer Raumbegriff gefunden werden« (160).
Einen solchen vorzustellen, nimmt Sch. im dritten Kapitel vor. Wieder knüpft er an Martina Löw an, die mit ihrem relationalen Raumbegriff den Dualismus der oben genannten Paradigmen überwinde, denn »der Raum [kann] weder relativistisch noch absolutistisch zureichend erfasst werden. Er entsteht aus der Relationalität, den Wechselwirkungen zwischen beiden Raumvorstellungen.« (165) Folglich finde man immer mehrere Räume an einem Ort vor; sie durchdringen sich mehrdimensional, sie sind verflochten und verwoben. Die dynamische Wechselwirkung von Handeln und Strukturen konstituiere Räume – einmal vollzogen im praktischen »Spacing« (dem strukturellen Schaffen von Raum), zum anderen in dem »geistig-intellektuellen« Prozess einer »Syntheseleistung«, in der Räume wahrgenommen werden (171).
Eine exemplarische Syntheseleistung nimmt Sch. nun vor, indem er eine raumsoziologische Untersuchung der »Pfarreiengemeinschaft Ettringen – Markt Wald – Siebnach« einschiebt. Dabei geht es darum zu fragen, ob die »territoriale Seelsorge … weiterhin als Basisstruktur der Landseelsorge gelten kann, oder ob sich das Leben der Menschen heute ganz anders verräumlicht als es die kirchlichen Raumkonzeptionen vorschlagen« (187). Es folgen Erfahrungsberichte mit jenem neuen Verbund, die im nächsten Abschnitt aufgenommen und verdichtet werden. Sch.s vorläufiges Fazit lautet: »Aus dem ›relationalen Raumbegriff‹ ergibt sich eine ›relationale Landpastoral‹.« (221) – Doch bevor er diesen eigenen Ge­danken weiter auszieht, eröffnet Sch. im vierten Kapitel zunächst genuin fundamentaltheologische Perspektiven, indem er fünf neuere Beiträge von Theologen referiert, die sich der Kategorie des Raums widmen.
Programmatisch fordert Sch. im abschließenden Kapitel, dass die Landpastoral im Zuge des spatial turn ebenfalls »umkehren« müsse. Leitbild dafür ist ihm die Kategorie der »Landschaft«. Landpastoral sollte »als eine landschaftliche Seelsorge gestaltet werden« (278). Der Terminus »Landschaft« stehe nicht nur für die »Synthese und Balance von Natur und Kultur« (Ipsen), sondern auch für die »Dramaturgie des Sozialen« (281) und das, was Lechner für die »Pastorallandschaft« fordert: »Pastoral im ländlichen Raum wird also eine Pastoral sein müssen, die in der jeweiligen Landschaft eingebettet ist, die von ihr ›eingefärbt‹ ist und die diese Landschaft mit ihrer Kultur und ihren Menschen prägt« (282).
Eine solch »landschaftliche Seelsorge« lasse sich 1. »auf die Raumgaben Gottes« (284) ein, d. h. sie spiegelt die Erfahrungsweisen Gottes als stabiles Gegenüber und als »fluidales Geschehen« wider, indem sie »Seelsorgeräume in der Relationalität von fließenden und stabilen Räumen« konstituiere. Und so wie Gott sich bewohnbar mache, müssten 2. auch wir einander bewohnbar werden. Es bräuchte eine »maqom-Praxis« (288) bei den Menschen. Hier führt Sch. eine ganze Gruppe neuer Metaphern ein, die diesen Aspekt veranschaulichen sollen und von »Herberge«, »Bleibe« und »Pilgerschaft« ausgehen. Heutige kirchliche Strukturen kranken nach Sch. 3. daran, dass sie wie Behälterräume organisiert sind. Die einzelnen Institutionen isolierten sich in ihrer Containermentalität und fragten dementsprechend zuerst nach der Identität; ihr »in Beziehung sein« müsste allerdings »strukturellen Vorrang« (230) genießen.
Sch. legt eine wichtige Arbeit vor. Denn er widmet sich zwei brisanten Themenkreisen, die bisher in der kybernetischen Diskussion vernachlässigt worden sind: den ländlichen Räumen und einem neuartigen Raumverständnis. Die Einschätzung dürfte nicht übertrieben sein, dass deren Synthese in der Lehre vom Gemeindeaufbau und in der kirchlichen Praxis jenseits der Städte zu einer fundamentalen Neuausrichtung führen würde.
Gleichwohl bleiben Fragen offen: Sie reichen von der durchgängig unkritischen Rezeption Martina Löws, von der Sch. sogar Bewertungen Dritter übernimmt, bis hin zum eigenen Vorschlag einer »landschaftlichen Seelsorge«: Wieso spielen die sonst so breit angeführten Sozialwissenschaften bei der Fundierung der Punkte 1 und 2 keine Rolle? Genügt die dazu bemühte klassische Form der theologischen Analogiebildung? Welche handlungstheoretischen Impulse gehen von der »landschaftlichen Seelsorge« aus? M. E. bleiben die praktischen Konsequenzen für ländliche Pastoral und strukturelle Entscheidungen unklar und obendrein dürftig. Denn gerade die diesbezüglich zentralen Fragen, wie sich heutiges Christsein auf dem Lande verräumlicht und was dies für kirchenpolitische Maßnahmen nach sich ziehen sollte, wird nicht ausreichend beantwortet. Aber sich ihr gewidmet und hier vorgedacht zu haben, bleibt zweifellos Sch.s Verdienst.