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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1345-1347

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Campi, Emidio, u. Ruedi Reich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Consensus Tigurinis (1549). Die Einigung zwischen Heinrich Bullinger und Johannes Calvin über das Abendmahl. Werden – Wertung – Bedeutung.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2009. VIII, 401 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 34,80. ISBN 978-3-290-17515-3.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Der von Emidio Campi gemeinsam mit dem Kirchenratspräsidenten Ruedi Reich herausgegebene Sammelband ist der offizielle Beitrag der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zü­rich zum Calvinjahr 2009. Mit dem von Calvin und Bullinger nach zweijährigen Verhandlungen 1549 fixierten Consensus Tigurinus rückt er ein Dokument ins Bewusstsein, dessen Bedeutung für die reformierte Bekenntnisentwicklung kaum überschätzt werden kann. Erst die damals erzielte Einigung im Verständnis des Abendmahls ermöglichte es, dass die von Zwingli geprägte Reformation in Zürich und der deutschsprachigen Schweiz und die Genfer Reformation Calvins zu einem gemeinsamen »reformierten« Be­kenntnis zusammenwuchsen. Insofern kann der Consensus Tigurinus auch als Exempel einer erfolgreichen »ökumenischen« Verständigung gelten.
Im Zentrum des ansprechend aufgemachten und mit 48 Schwarz- Weiß-Abbildungen reich illustrierten Bandes stehen die historischen Dokumente selbst. Der zweiten, intensivierten Phase des Abendmahlsgesprächs zwischen den beiden Reformatoren zwischen Calvins Besuchen in Zürich im Mai 1548 und im Mai 1549 entstammen die sog. Propositiones de Sacramentis Calvins, die diese kommentierenden Annotationes Bullingers, Calvins daraufhin verfasste Responsio sowie die abermaligen Annotata Bullingers dazu. Unmittelbare Vorlage für den Consensus Tigurinus wurde das von Calvin für eine Berner Synode verfasste Abendmahlsbekenntnis, die sog. Confessio Gebenensis. Der eigentliche Consensus Tigurinus (eigentlich: »Consensio mutua in re sacramentaria«) wurde zu­nächst handschriftlich verbreitet, dann 1551 auf Latein und kurz darauf auch in einer deutschen und einer französischen Übersetzung – der »Einhelligkeit« und dem »Accord« – gedruckt. Während der Consensus selbst auch in der Calvin-Studienausgabe enthalten ist, lagen diese Texte sonst bislang nur in der alten, unbefriedigenden Edition des Corpus Reformatorum vor; die Einhelligkeit und der Accord waren überhaupt noch nicht ediert. Der vorliegende Band enthält diese wichtigen Quellen nun in einer mustergültigen modernen Edition aufgrund einer deutlich breiteren Überlieferung (75–267).
Alle Texte werden zusätzlich auch in deutscher Übersetzung geboten, der Consensus selbst außerdem auch auf Französisch, Italienisch und Englisch. Wünschenswert wären die synoptische Zusammenstellung von Originaltext und Übersetzung sowie die Anbringung eines Zeilenzählers gewesen; auch das Fehlen von Überschriften über den einzelnen Quellenstücken ist bedauerlich. Dem großen Wert der Neuedition tun diese Monita indessen keinen Abbruch. Ein einziger Fehler ist dem Rezensenten aufgefallen: auf S. 110 muss es in der dritten Zeile »symmistae« statt »symmista« heißen.
Flankiert wird die Quellenedition von sechs Aufsätzen. Grundlegend zur Entstehungsgeschichte und dem theologiegeschichtlichen und politischen Kontext des Consensus Tigurinus ist die einleitende Darstellung von Emidio Campi (9–41). Peter Opitz fragt hinter die dogmatischen Formeln des Abendmahlsgesprächs zwischen Bullinger und Calvin zurück nach deren exegetischer Be­handlung der neutestamentlichen Abendmahlstexte und des jo­hanneischen Brotwortes (43–69). Der präzisen Würdigung des theologischen Ertrags des Abendmahlskonsenses ist der auf eine Analyse des siebten Artikels gestützte Aufsatz von Eberhard Busch gewidmet (284 ff.).
Manche hergebrachten Urteile der älteren Forschung werden in diesen drei Aufsätzen revidiert. So weist Campi ausführlich auch auf die politischen Hintergründe der Annäherung zwischen Calvin und Bullinger hin, die in der bedrohlichen Lage des Protestantismus im Reich nach dem Augsburger Interim und insbesondere im Verlust des wertvollen Verbündeten Konstanz sowie in dem vor allem in der Waadt sich entzündenden Konflikt zwischen dem streng zwinglianisch gesinnten Bern und Genf lagen. In der viel diskutierten Frage, ob sich im Zürcher Konsensus Bullinger oder Calvin durchgesetzt habe, vertreten die Autoren des Bandes übereinstimmend die Auffassung, dass es sich um einen wirklichen, durch beiderseitige Zugeständnisse ermöglichten Kompromiss gehandelt habe. Damit widersprechen sie der älteren, aber auch noch bis in die gegenwärtige Diskussion hinein vertretenen Auffassung, wonach Bullinger das Anliegen Zwinglis auf Kosten von Intentionen Calvins zur Geltung gebracht habe. Tatsächlich verstehe der Consensus das Abendmahl eindeutig als Gabe, indem der gegenwärtige Christus sich selbst den Gläubigen schenke, wobei allerdings die Heilsgabe wie die Gegenwart Christi streng pneumatologisch vermittelt zu denken seien. Gestützt wird dieser Be­fund von O.s Studie zu den exegetischen Grundlagen beider Protagonisten, die ungeachtet ihres zeitlichen Abstandes voneinander große sachliche Übereinstimmungen erkennen lassen.
Der Consensus Tigurinus wäre demnach ein echtes Einheitsbekenntnis; und auch wenn sich alle Beteiligten darüber im Klaren waren, dass seine Formeln verschieden gelesen werden konnten und in Zürich und Genf auch weiterhin unterschiedliche Akzente gesetzt wurden, so steht er doch am Anfang der späteren gemeinsamen reformierten Abendmahlsauffassung. Dass damit nicht per se eine Absage an die Anliegen des Luthertums verbunden war, zeigt Busch: Denn dieselbe Doppelheit von Handeln Gottes und Handeln der Menschen wie im 7. Artikel des Consensus findet sich auch schon in CA 13. In dieser spezifischen Zuordnung von göttlichem und menschlichem Handeln, von göttlicher Verheißung und menschlicher Heiligung, kann der Consensus nach dem Urteil von François Dermange sogar als eine Zusammenfassung der reformierten Auffassung vom christlichen Leben schlechthin gelesen werden (296–317).
In losem Anschluss an die historische Thematik reflektiert Ruedi Reich die Entwicklung der Abendmahlspraxis der reformierten Zürcher Kirche von den 1960er Jahren bis zur Kirchenordnung von 2009 in praktisch-theologischer und ökumenischer Perspektive (318–336). Fulvio Ferrario von der Waldenserfakultät zieht schließlich die Linien vom Consensus Tigurinus zu den gegenwärtigen Konsensversuchen aus, für die er die Leuenberger Konkordie in ihrer Gleichzeitigkeit des satis est von CA 7 – allein schon aufgrund der gemeinsamen Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament kann die volle Kirchengemeinschaft hergestellt werden– und der Suche nach materialen Konsensformeln für methodisch wegweisend erklärt (337–351).
Eine ausführliche Bibliographie sowie chronologische Übersichten zum Austausch zwischen Bullinger und Calvin und zur Entstehungsgeschichte des Consensus beschließen den Band. Die im Vorwort geäußerte Erwartung der Herausgeber, die von ihnen versammelten Beiträge möchten »ebenso bahnbrechend wirken wie seinerzeit der ursprüngliche Consensus Tigurinus« (VI), muss man wohl allzu kühn nennen. Gleichwohl wird man ihnen be­scheinigen können, das Grundlagenwerk für jede weitere Beschäftigung mit der Thematik geschaffen und wesentliche Impulse für eine theologische Neubewertung des Consensus Tigurinus gegeben zu haben.