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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1212-1214

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frankemölle, Hubert

Titel/Untertitel:

Das jüdische Neue Testament und der christliche Glaube. Grundlagenwissen für den jüdisch-christlichen Dialog.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 256 S. gr.8°. Kart. EUR 27,00. ISBN 978-3-17-020870-4.

Rezensent:

Klaus Wengst

Mit dem zuspitzend formulierten ersten Teil des Titels – »das jüdische Neue Testament« – meint Frankemölle zum einen: Die »Verfasser der 27 Schriften des NT – mit Ausnahme vielleicht des Evangelisten Lukas – waren Juden und verstanden sich auch so« (19 f.). Zum anderen kennzeichnet er damit »die Grundthese« dieses Buches: »Die ntl Texte werden verstanden als genuin jüdische Schriften, die … ein genuiner Teil des damaligen Judentums waren« (34). Sein Ergebnis fasst er so zusammen: »Alle Verfasser der ntl Schriften bleiben innerhalb der Grenzen jenes vielgestaltig entfalteten Glaubens an Gott, den Einen und Einzigen, der in den hebräischen, aramäischen und griechischen heiligen Schriften Israels und in den frühjüdischen theologischen Texten … in Jahrhunderten entfaltet wurde« (226). »Daraus folgt …, dass Christo-logie (= Rede von Christus) im strengen Sinn des Wortes als Theo-logie (= Rede von Gott, dem Einen) zu konzipieren ist« (227).
Bei der Entfaltung seiner These stellt F. immer wieder zu Recht die fundamentale Bedeutung der Schriften heraus, die im Judentum der Zeit als heilig galten und gelesen wurden. »Jesu Verkündigung und das gesamte NT können … als aktualisierende Auslegung der heiligen Schriften Israels verstanden werden« (31). Aus deren »bleibende[m] theologische[n] Vorrang« folgert er: »Christen müssen das AT zweimal lesen: vom AT zum NT, damit man dieses überhaupt verstehen kann, und aufgrund der biblischen Verweise im NT in einer zweiten Lektüre vom NT zum AT« (124). Neben dieser biblischen Fundamentierung stellt F. in der Durchführung seiner These immer wieder den Zusammenhang neutestamentlicher Aus­sagen mit der hebräisch-aramäischen oder der griechisch-jü­dischen Tradition im vielgestaltigen Judentum der Zeit heraus.
Hinsichtlich der Durchführung des Programms treten im Buch zwei Hauptteile hervor. Zunächst findet sich eine Darstellung Jesu von Nazaret (35–85) mit anschließender knapper Beschreibung von Orten, Personen und Gruppen seiner Zeit (87–118). Der andere Hauptteil orientiert sich an zentralen theologisch-christologischen Aussagen, die in den Kontext des Judentums eingezeichnet werden (129–208). Damit gehört der darauf folgende Abschnitt über die Gesandten-Christologie im Johannesevangelium und – wesentlich ausführlicher – über die christologische Konzeption des Paulus zusammen (209–227), die sich innerhalb der »monotheistischen Grundstruktur« bewegen.
Dem Programm dieses Buches ist m. E. voll und ganz zuzustimmen. Auch die Durchführung kann weithin überzeugen. Im Blick auf sie will ich aber auch vor allem die folgenden Anfragen stellen:
1. Ist es für dieses Programm relevant, nach dem »historischen« Jesus zu fragen? Dass Jesus Jude war, wird ernsthaft nicht mehr bestritten. Wäre es nicht wichtiger und hinreichend, an den vorliegenden Texten aufzuzeigen, dass sie von ihrem Inhalt her jüdisch sind? Wer den »historischen« Jesus rekonstruieren will, muss sich notwendig auf Vermutungen einlassen, in die eigene Lieblingsgedanken einfließen werden. Bei F. scheint mir das der weltoffene, universal orientierte, den »Heiden« zugewandte Jesus im »heid­nischen Galiläa« zu sein, für den Gott nicht nur der Gott Israels, sondern auch Gott der Völker ist. So gewiss Gott auch Gott der Völker ist: Wäre es nicht wichtiger, es erst einmal wirklich christlich durchzubuchstabieren, was es bedeutet, dass Gott Israels Gott ist und bleibt?
2. Die Formulierung vom »jüdischen Neuen Testament« fordert sicherlich zum Nachdenken heraus; nichtsdestotrotz ist sie falsch. Sollte sie dann nicht besser unterlassen werden? Was zutrifft, formuliert F. in einer Zwischenüberschrift: »Das Neue Testament: eine Sammlung jüdischer Texte« (33). Aber diese Sammlung und damit das Neue Testament als Ganzes ist ein christliches Unternehmen; und zu diesem Unternehmen wäre es nicht gekommen, wären die einzelnen Schriften – jedenfalls die meisten – nicht schon sehr bald nach ihrer Abfassung als Lesetexte in den Gemeinden neben den heiligen Schriften Israels gebraucht worden.
3. Wenn man für die Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften und die Zeit ihres ersten Gebrauchs mit Recht die These vertritt, dass es sich um »genuin jüdische Schriften« handelt, müsste man dann nicht konsequenter im Gebrauch der Terminologie sein und für die Beschreibung von Phänomenen dieser Zeit auf die Begriffe »christlich«, »Christen« und »Christentum« oder gar »Urchristen« und »Urchristentum« verzichten? Denn mit ihrem Gebrauch trägt man die mit ihnen verbundene Unterscheidung vom Jüdischen bis zum Gegensatz hinterrücks wieder ein.
4. Der Grundsatz des Neuen Testaments, »dass Gott Jesus von den Toten erweckt hat«, der Voraussetzung des Schreibens aller seiner Autoren ist, konnte selbstverständlich nur im Kontext des Judentums formuliert werden. Aber muss er deshalb so eingeebnet und m. E. unterbestimmt werden, wie F. es tut (vgl. besonders 140–148)? Das ist verbunden mit einer sich auch an anderen Stellen zeigenden geradezu reflexhaften Abwehr von Apokalyptik, die nicht zu verstehen gesucht, sondern als vermeintliche Katastrophen­theo­logie abgelehnt wird. Die Einbeziehung der Völker in das Heilshandeln Gottes in der auf Jesus als Gesalbten bezogenen Verkündigung beruht nicht auf irgendeinem vermuteten universalen Gottesbild des »historischen« Jesus, sondern auf der als Anbruch endzeitlicher Neuschöpfung verstandenen Auferweckung Jesu, mit der die Gabe des Geistes Gottes »auf alles Fleisch« verbunden ist.
Leider sind viele Versehen stehen geblieben, sowohl falsche Stellenangaben als auch grammatische Schnitzer. An Ärgerlichem sei darüber hinaus noch angemerkt: Obwohl auf S. 59 das aramäische abba zutreffend mit »Vater« übersetzt wird, geschah das vorher auf S. 51 mit »lieber Vater«. Herodes Antipas wird mit Herodes Agrippa I. verwechselt (98). Gamaliel I. erscheint – in einer auch sonst eigenartigen Reihung – als Nachfolger Jochanans ben Sakkaj (121; vgl. 97). Und was sind »pharisäisch-aramäisch sprechende Juden« (74)?