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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

145–147

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Radl, Walter

Titel/Untertitel:

Der Ursprung Jesu. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas 1–2.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1996. 397 S. gr.8° = Herders Biblische Studien, 7. Geb. DM 88,-. ISBN 3-451-23940-X.

Rezensent:

Hans Klein

Der Vf. hat die Kommentierung des Lukasevangeliums in der Herder-Reihe übernommen. Die vorliegende Arbeit ist eine Vorstudie für diesen Kommentar, die anzeigt, daß die Auslegung es an Gründlichkeit nicht mangeln lassen wird. Der Kommentar verspricht somit der leider ein Torso gebliebenen Auslegung von H. Schürmann an Akribie nicht nachzustehen. Der Ansatzpunkt ist freilich verschieden. Das macht verständlich,daß Radl nicht Schürmanns Auslegung fortsetzt, sondern neu beginnt.

Im Unterschied zu Schürmann räumt er der lk Redaktion viel mehr Gewicht ein, wo Schürmann auf die zugrundeliegende Tradition Wert legt und überall, wo es nur geht, Tradition in Rechnung stellt.

R. untersucht in seinem Buch die Kindheitsgeschichte Jesu und geht dabei vom vorfindlichen Text aus, bespricht die textkritischen Fragen, analysiert die Texte, fragt nach den dahinterliegenden Traditionen sowie dem Wandel von deren Motiven und faßt die Redaktion ins Auge. Eingehende und subtile Sprach- und Stiluntersuchungen ermöglichen, die Redaktion von der Tradition abzuheben. Es wird die Frage nach der Gattung der eruierten Überlieferung und der Aussage der rekonstruierten Texte gestellt, nach Herkunft und Vorgeschichte derselben gefragt. Somit werden die verschiedenen Methoden der ntl. Wissenschaft miteinander verbunden, und der Vf. erweist sich als Meister im Umgang mit denselben.

Vorsichtig geht der Vf. von den eindeutigeren Texten zu den schwierigeren über, wobei ihm die lk Reihenfolge weitgehend entgegenkommt. Er bespricht zunächst die Täufergeschichten (66-139), dann jene Jesu (140-266), um am Ende das schwierige Verbindungsstück 1,26-56 genauer zu betrachten (267-360).

In einem kurzen Abschnitt geht er abschließend historischen Fragen der Geburt und der Empfängnis Jesu nach und zeigt auf, wie aus einem ursprünglichen Theologumenon der Gottessohnschaft (357) im Hören auf die Schrift und im Auslegen derselben im hellenistischen Judentum die Aussage der Geburt aus der Jungfrau erzählerischen Niederschlag fand (361-369).

Als Ergebnis seiner Studien ergibt sich zunächst eine in Täuferkreisen überlieferte Kindheitsgeschichte des Johannes, die seine Verehrer in die Gemeinde mitbrachten als sie dem Christentum beitraten. Diese Tradition umfaßte die wesentlichen Aussagen des gesamten ersten Kapitels des Lukasevangeliums. Elisabeth habe die Erscheinung Gabriels erfahren und nicht Maria, und sie habe auf die Ankündigung des Engels mit dem Magnificat geantwortet. Lukas habe die entsprechende Veränderung vorgenommen und somit aus zwei Szenen drei gemacht (307 f.).

In Lk 2 entdeckt der Vf. drei verschiedene Traditionen, die eine in 2,8-20*, von den Hirten, einer in aramäischer Sprache überlieferten Erzählung, die er am ehesten als Findelkindgeschichte verstehen kann (192 f.), einer hinter 2,22-39* stehenden, ebenso in aramäischer Sprache abgefaßten Begegnungsszene, mit "eingebetteter Weissagung über die Sendung und zukünftige Bedeutung des Kindes" (229) und endlich eine von palästinischen Judenchristen hellenistischer Prägung weitergegebene "Objection Story" von der Weisheit des 12jährigen Gottessohnes, die der katechetischen Unterweisung dienen sollte (258).

Lukas habe diese vier verschiedenen Traditionen zusammengebracht und habe damit der griechischen Enkomien-(Lobreden-)Literatur entsprochen, die vorsieht, daß die Helden der folgenden Geschichte als Göttersöhne dargestellt werden, deren Geburt und Kindheit ungewöhnlich war (40). Seine Leistung ist im besonderen in 2,1-7 erkennbar, wo er die Geburtsgeschichte in den Rahmen der Weltgeschichte stellt und in der Veränderung von 1,26-56, wo er aus einer Szene, die Elisabeth betrifft, die Erscheinung vor Maria sowie die Begegnung zwischen Maria und Elisabeth gestaltet und das Magnificat Maria in den Mund legt. Ansonsten sind kleinere Veränderungen von ihm vorgenommen worden, die heute den inneren Zusammenhang der Überlieferung stören oder theologisch neue Gesichtspunkte bringen. Durch kleine redaktionelle Überarbeitungen, Zufügungen von Versen und Halbversen (z. B. 1,68 f.; 2,21 oder 1,48b. 55) ist die heutige Erzählung entstanden.

Dabei bleibt für R. unentscheidbar, ob Lk die Kap. 1-2 schon ursprünglich seinem Evangelium voranstellte, oder ob er die beiden Kapitel später "vorklebte" (57 f.). Denn in 3,1 setzt Lk neu ein, und es ist durchaus vorstellbar, daß das ursprüngliche Evangelium hier begann, vor allem, weil 3,2 Johannes neu eingeführt wird, auch wenn die Wendung an Jer 1,1 LXX erinnert (57).

Das Buch beeindruckt durch seine Geschlossenheit. Der Vf. nimmt die Leser/innen in den Prozeß der archäologischen Schichtenabhebung und daraufhin in den des Wachstums der Überlieferung mit hinein und beschreibt die Absicht von Tradition und Redaktion, letztere in Rücksprache mit der eruierten Tradition. Dabei scheint mir die Erarbeitung der lk Aussageabsicht im Vergleich zur Rekonstruktionsarbeit die wertvollere und auch bedeutendere zu sein. Die Ausssageabsicht eines Evangelisten läßt sich im Gespräch mit der Tradition konkreter beschreiben. Sie bekommt auf diese Weise Tiefendimension.

Die Rekonstruktion der Traditionen betreffend habe ich einige Zweifel. Wenn man sieht, wie Lk die Texte des Mk und von Q, sowie die AT-Zitate behandelt, kann man sich eine so weitreichende Redaktionsarbeit, wie sie hier vorgestellt wird, nicht gut vorstellen. Man kann natürlich einwenden, daß die Kindheitsgeschichte möglicherweise in mündlicher Überlieferung auf Lk zugekommen ist. Aber die Art, wie der Vf. Verse und Versteile, zuweilen auch Wörter als lukanisch abhebt und als "sicher redaktionell" bezeichnet (z.B. 93 für 1,69 und 254 für 2,47), setzt voraus, daß er an die Bearbeitung einer schriftlichen Quelle durch Lk denkt. Allenfalls bei der Passionsgeschichte sind vergleichbare Stellen, wo mit einem ähnlichen Anteil lk. Überarbeitung des Mk-Textes gerechnet werden kann und tatsächlich führt der Vf. die lk Komposition von 23,6-12 als Beleg für die Gestaltung von 1,26-56 an (306). Aber dieser Erzählkomplex kann nur bedingt herangezogen werden, weil die Frage, ob Lk neben der Leidensgeschichte des Mk noch andere vergleichbare Traditionen kannte, die er mit der Passionsgeschichte des Mk zusammenarbeitete, immer noch nicht zufriedenstellend geklärt ist. Vor allem aber ist 23,6-12 nur sehr begrenzt als Beleg für eine so grundsätzliche Umgestaltung heranzuziehen, wie der Vf. sie für 1,26-56 voraussetzt; denn dort wird die Szene "Jesus vor Pilatus" nur verkürzt, um aus dem Material eine Szene "Jesus vor Herodes" zu gestalten. In 1,26-55 aber soll aus einer Elisabethszene eine Mariaerzählung mit einer Begegnung von Maria und Elisabeth entstanden, das Material also ganz neu erzählt worden sein, wobei der ursprüngliche Hauptakteur jetzt nur noch als Nebenfigur rangiert. Man wird nicht ohne Grund fragen, ob der auctor ad Theophilum noch asphaleia-Gewißheit (1,3) vermitteln kann, wenn er geformte Erzählungen so verändert hat.

Somit bleiben trotz der S. 305-307 angeführten Beobachtungen zur Arbeitsweise des Lk Bedenken, ob die Redaktionsarbeit so hoch zu veranschlagen ist. Man vermißt vor allem die Erwägung, daß Lk dort, wo Brüche im Text sind, Umstellungen vorgenommen oder auch seine Vorlage verkürzt bzw. verändert haben könnte. Beides läßt sich an seiner Bearbeitung des Mk an verschiedenen Stellen aufzeigen, und an einzelnen Stellen hat R. damit gerechnet z.B. S. 219 für 2,22-24. Mit dem gleichen Recht hätte auch in Anschlag gebracht werden können, daß die Geburtsgeschichte ursprünglich nicht mit 2,8 begann, die alte Einleitung eher in 2,5-7 von Lk bearbeitet wurde. Denn der von R. (180 ff.) bestimmten Tradition fehlt m. E. die Einleitung mit der Vorstellung von Maria, Joseph und dem Kind.

Zuweilen stört auch die Sicherheit, mit der der Vf. Redaktion von Tradition abhebt. Wohltuend ist darum die Abstufung von sicherer zu weniger sicherer Redaktionsarbeit S. 102. Sätze wie zu 2,18: "ist zumindest lk überarbeitet" (172) sollten öfter kommen, ohne daß die dahinter stehende Tradition wörtlich be-stimmt wird, weil die Wahrscheinlichkeit, dieses tun zu können, zu gering ist.

Dies schmälert nicht den Wert des herausragenden Werkes. Es bringt eine Fülle von sorgfältigen inhaltlichen und sprachlichen Beobachtungen, religionsgeschichtlichen Parallelen und Anklängen an das AT, so daß es in vieler Hinsicht auch als Nachschlagewerk herangezogen werden kann. Auch wenn im einzelnen diese Beobachtungen anders bewertet und Folgerungen in verschiedener Weise gezogen werden, bleiben die Materialien wertvoll. Man wünscht dem Buch viele aufgeschlossene ­ auch kritische ­ Leser/innen und eine baldige Neuauflage.

Bei einer solchen sollten die wenigen Druckfehler verbessert werden: S. 58: Lk 1,8 statt 1,80; S. 166: sNt statt sNT; S. 381: Der Verfasser von "Sonship..." ist nicht M.(arinus), sondern H.(enk) de Jonge.