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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1148-1150

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Klein, Dietrich

Titel/Untertitel:

Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. X, 310 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 145. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-149912-8.

Rezensent:

Christopher Spehr

Sein Name gehört zum theologiegeschichtlichen Allgemeingut des 18. Jh.s. Seine Tätigkeiten sind facettenreich und geheimnisum­woben. Und seine aufklärerischen Impulse enthalten auf religi­ösem Gebiet revolutionäre Sprengkraft: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) – Hamburger Professor, Gymnasialrektor, Bibelkritiker und Radikalaufklärer. Zu Lebzeiten als anerkannter Philologe, gern gelesener Popularphilosoph und gut lutherischer Ge­lehrter der Öffentlichkeit bekannt, lösten seine durch Gotthold Ephraim Lessing postum zwischen 1774 und 1778 in Auszügen publizierten bibelkritischen Gedanken den Fragmentenstreit aus. Im Verlauf des Streitschriftenkriegs, der vonseiten der lutherischen Orthodoxie gegen die durch den »Wolfenbüttelschen Ungenannten« formulierte Destruktion der Historizität zentraler christlicher Glaubenswahrheiten äußerst heftig geführt wurde, geriet Reimarus unter Verfasserverdacht, den sein Sohn erst 1814 offiziell bestätigte. Seitdem wird Reimarus als Fragmentist, Rationalist und Deist von Theologie und Kirche rezipiert, ohne dass dessen theologische und religionsphilosophische Implikationen innerhalb seines Ge­samtwerks genauer erschlossen wären. Während die Reimarusforschung in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur die kritische Edition seiner Schriften veranlasste und neue Aspekte des bedeutenden Gelehrten zutage förderte, blieb eine Aufarbeitung seines theologischen Werkes ein Desiderat.
Dietrich Klein ist es jetzt gelungen, »das theologische Werk« von Reimarus kontextuell zu verorten, minutiös zu analysieren und luzide zu interpretieren. Durch seine von Jan Rohls betreute Münchener Dissertation schließt K. nicht nur jene klaffende Forschungslücke in überzeugender Weise, sondern präsentiert auch ein neues Standardwerk der Reimarusforschung. Erstmals wird Reimarus’ philosophisch-theologische Entwicklung umfassend aus dem vorhandenen Archivmaterial erschlossen und innerhalb des theologiegeschichtlichen Umformungsprozesses des 18. Jh.s dargestellt. Den Dreh- und Angelpunkt der Studie bilden die zwei Hauptschriften »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« (Kapitel 2) und »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« (Kapitel 3), deren ideengeschichtliche und biographische Entstehungsvoraussetzungen K. gekonnt be­schreibt, um nach einer ausführlichen Inhaltsangabe exemplarisch religionsphilosophische und dogmatische Probleme der jeweiligen Schrift zu benennen. Abgerundet wird die Kombination historiographischer Nahaufnahmen und geistesgeschichtlicher Panoramen durch einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte der jeweiligen Schriften.
Im Rahmen der Darstellung der »Apologie« (17–200) wendet sich K. den Ursprüngen der Bibelkritik von Reimarus zu und analysiert die Impulse, die Reimarus zu seinem in der Mitte der 1730er Jahre begonnenen und erst kurz vor seinem Tod abgeschlossenen, aus Sorge vor staatlicher Repression zeitlebens nicht publizierten theo­logischen Lebenswerk veranlassten. Von seinen Hamburger Gymnasiallehrern Johann Albert Fabricius und Johann Christoph Wolf in die philologische Arbeit und orthodoxe Verteidigungsstrategien eingeführt, lernte er während seines Studiums in Jena und Wittenberg u. a. bei Johann Franz Budde die eklektische Philosophiegeschichtsschreibung kennen und eignete sich die Methode histo­-rischen Arbeitens an. In seiner Qualifikationsschrift »De Machiavellismo ante Machiavellum« (1719) befasste sich Reimarus kritisch mit Machiavellis religionspolitischem Programm, das er später in radikal religionskritischer Weise weiterentwickeln sollte. Auf seiner akademischen Reise, die ihn Anfang der 1720er Jahre in die Niederlande und nach England führte, begegnete Reimarus u. a. Jean Le Clerc, der die bis dahin übliche orthodoxe Trennung zwischen heiliger und profaner Philologie bewusst missachtete und dem Hamburger Gelehrten ein Exempel für die profane Hermeneutik der Bibel bot. Obgleich sich Reimarus in seinen Reisetagebuchaufzeichnungen über diese Vermischung der Philologien noch entsetzt zeigte, verlagerte er in seinen kritischen Arbeiten später das Gewicht auf die vernunftorientierte, profane Philologie und nutzte »antiquarische Gelehrsamkeit, kritische Rekonstruktion his­torischer Umstände« und »naturwissenschaftliches Erfahrungs­wissen« als »Waffe gegen die Bibel in ihrer dogmatischen Auslegung« (35). In England u. a. mit den zeitgenössischen deistischen Diskursen in Berührung gekommen, setzte Reimarus sich von den 1720er bis 1750er Jahren intensiv mit englischer Literatur auseinander und rezipierte eigenständig deistisches Gedankengut beispielsweise von Anthony Collins, John Toland oder Thomas Woolston.
Dass Reimarus’ Kenntnisnahme radikaler deistischer Literatur nicht allein dazu führte, seinen gemäßigt orthodoxen Standpunkt zu verlassen, versteht sich nach der Lektüre der von K. skizzierten Impulse von selbst. In den Streit um die von Johann Lorenz Schmidt verfasste »Wertheimer Bibel« (1735) griff Reimarus be­kanntermaßen durch zwei sich geradezu widersprechende Rezensionen ein. Aber anders als Peter Stemmer (Weissagung und Kritik, Göttingen 1983, 137), der den bibelkritischen Wendepunkt bei Reimarus ebendort verortet, vertritt K. die These einer schrittweisen Destruierung der »hermeneutica sacra« (40 f.). Als eine eigene Entwicklungslinie profiliert K. Reimarus’ Beschäftigung mit Johann Konrad Dippels Kritik der Versöhnungslehre und mit den einerseits vom philosophischen Gottesbegriff, andererseits von der biblischen Offenbarung her argumentierenden Harmonisierungsversuchen zwischen Vernunft und Offenbarung, die Reimarus später zugunsten der Vernunft auflöste.
Die Interpretation der »Apologie« vollzieht K. schließlich in den drei lesenswerten Abschnitten »Über die Macht des Betrugs – Die ›Theokratie des Mose‹« (107–133), »Vom Scheitern eines Messias – Historischer Jesus und Neues Testament« (133–148) und über den »Kampf gegen die Unvernunft – Die Dogmenkritik der ›Apologie‹« (149–169). Aus der dargebotenen Vielfalt sei lediglich auf einen Aspekt aufmerksam gemacht: Während die widerspruchslogische Des­truk­-tion biblischer Wunderberichte seit Lessings Publikation der Fragmente zum Kernbestand Reimarusscher Bibelkritik zählt, sind die radikalen Ausführungen von Reimarus über die »Theo­kratie des Mose« vielfach unbekannt. In Auseinandersetzung mit Toland und Machiavelli stilisierte Reimarus die alttestamentliche Gestalt des Mose zum Religionsbetrüger, der – obwohl er die Inhalte der vernünftigen Religion kannte – seine Herrschaft auf eine autoritäre und unvernünftige Religion stützte.
Ein bemerkenswertes Kabinettstück gelingt K. in der Aufde­ckung der »Apologie«-Rezeption durch den Berliner Schulmann Christian Tobias Damm (181–196). Als Freund Friedrich Nicolais und Moses Mendelssohns war der Rektor des Köllnischen Gymnasiums seit 1770 mit Abschriften von Reimarus’ Fragmenten vertraut, die er in anonymen »deistischen« Schriften eigenständig weiterentwickelte. Ob allerdings der junge Friedrich Schleiermacher 1793/94 die Dammschen Schriften studierte, wie K. behauptet, bleibt fraglich.
Im Gegenüber zur Radikalität der bibel-, religions- und dogmenkritischen Gedanken der »Apologie« stellt K. die erstmals 1754 publizierten »Vornehmsten Wahrheiten« als »religionsphilosophisches Werk« vor (201–266), die in der Physikotheologie und in der Tradition theologischer Apologetik wurzeln und eklektisch mit der Leibniz-Wolffschen Philosophie bezüglich Gott, der Vorsehung und der Unsterblichkeit der Seele verfahren. Dass in diesem popularphilosophischen Buch Reste lutherisch-dogmatischer Wahrheitsgewissheit und Traditionsstränge orthodoxen Gedankenguts aufscheinen, deckt K. anhand dieser Schrift auf (249 u. ö.). Insofern ist K. zuzustimmen: Reimarus kann nicht allein als ein »Freigeist und aufgeklärter Gegenspieler der lutherischen Orthodoxie« betrachtet werden, sondern »vielmehr als einer ihrer umtriebigs­ten und konsequentesten Vertreter« (279).