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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1126-1128

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Vogel, Lothar

Titel/Untertitel:

Das zweite Regensburger Religionsgespräch von 1546. Politik und Theologie zwischen Konsensdruck und Selbstbehauptung.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. 620 S. gr.8° = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 82. Lw. EUR 88,00. ISBN 978-3-579-05373-8.

Rezensent:

Matthias A. Deuschle

Lothar Vogels Marburger Habilitationsschrift widmet sich einem Ereignis, das in reformationsgeschichtlichen Darstellungen für gewöhnlich ein Schattendasein führt. Das Jahr 1546 bringt man in der Regel mit Luthers Tod und dem Ausbruch des Schmalkaldischen Krieges in Verbindung, nicht aber mit dem zweiten Religionsgespräch in Regensburg. Dennoch steht die weithin unbekannte Versammlung in der Donaustadt in engem Verhältnis zu den beiden anderen Ereignissen: Es wird überliefert, dass die protestantischen Teilnehmer des Gespräches in Tränen ausbrachen, als sie von Lu­thers Tod erfuhren (darauf geht V. allerdings nicht ein, vgl. 434 f.). Wichtiger ist freilich, dass sich das protestantische Lager in Regensburg zum letzten Mal in Einigkeit präsentierte, bevor es dann nach Luthers Tod auseinanderbrach und sich 1557 schließlich vor aller Augen – beim Wormser Religionsgespräch – unter gegenseitigen Verurteilungen spaltete. V.s Arbeit lenkt den Blick darauf, wie in Regensburg Theologen Wittenberger Provenienz (G. Major) und lutherischer Prägung (E. Schnepf, J. Brenz) in Einigkeit mit Martin Bucer und mit ihm als Wortführer agierten (vgl. 315.380 u. ö.).
Was den Schmalkaldischen Krieg angeht, so gehört das Religionsgespräch zu seiner unmittelbaren Vorgeschichte. Ausführlich geht V. der viel verhandelten Frage nach, welche Funktion die Versammlung aus kaiserlicher Sicht haben sollte: Wollte der Kaiser nur von seinen Kriegsvorbereitungen ablenken oder hoffte er immer noch auf eine friedliche Lösung? Detailliert arbeitet V. die diesbezügliche Forschungsgeschichte auf (50–63); die Beantwortung der Frage, die zugleich Licht auf das religionspolitische Programm Karls V. wirft, durchzieht aber die ganze Studie. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es dem Kaiser in erster Linie darum gegangen sei, die Protestanten zur Teilnahme am Konzil zu bewegen. Das Religionsgespräch sei dafür – neben dem kriegerischen Vorgehen – eine zweite Option ge­wesen (164.337 u. ö.). Damit kommt ein drittes Ereignis in den Blick, das die Regensburger Verhandlungen überschattete: Am 13 .12.1545 hatte Paul III. das Trienter Konzil eröffnet. V. verdeutlicht, dass durch die Eröffnung des Konzils ganz andere Rahmenbedingungen gegeben waren als Anfang der 40er Jahre und dass die Parallelität von Konzil und Religionsgespräch vor allem den Interessen des Kaisers diente, der zwar das Konzil, nicht aber die päpstliche Dominanz wünschte (vgl. 146). So steht das Regensburger Gespräch mit seiner Vor- und Nachgeschichte zwar alles andere als im Zentrum der geschichtlichen Ereignisse, aber es ist doch ein guter Seismograph für die tektonischen Verschiebungen und Bewegungen, die schließlich zu den großen Beben der Jahre 1546–1552 führten.
V.s Arbeit ist streng chronologisch aufgebaut: Sie beginnt mit der Darstellung der religionspolitischen Positionen der Beteiligen – Kaiserhof, altgläubige und protestantische Reichsstände – (Kapitel 2) und endet mit den Rückbezügen auf das zweite Regensburger Religionsgespräch am Vorabend des Schmalkaldischen Krieges (Kapitel 6). Vorgeschaltet ist ein Kapitel, das den Charakter der Religionsgespräche der 40er Jahre im Spannungsfeld von Politik und Theologie auslotet (Kapitel 1) und auf die Rolle der Rechtfertigungslehre bei den verschiedenen Kolloquien eingeht (1.3). Kapitel 3 und 4 beleuchten die Genese und die unmittelbare Vorbereitung des Religionsgesprächs auf dem Wormser Reichstag 1544/45 und danach. Im Zentrum der Untersuchung steht dann aber der Verlauf des Gesprächs selbst (Kapitel 5), das am 27.1.1546 eröffnet wurde und am 23.2. zum letzten Mal tagte. Die Ereignisse werden mi­nutiös nachgezeichnet – von der Abfertigung der Teilnehmer durch ihre Obrigkeiten bis zur Abreise der Protestanten erfährt man alles. Darin zeigt sich eine enorme Forschungsleistung. V. hat in vorbildlicher Weise Quellen verschiedenster Provenienzen zusammengetragen und analysiert, alleine die Archivalien entstammen 25 verschiedenen Orten in halb Europa. Die Lektüre gibt zudem Einblick in die quellenkritischen Entscheidungen. Aufschlussreich ist, dass nicht erst die nach dem Scheitern der Versammlung veröffentlichten Berichte, sondern auch schon die während des Gesprächs entstandenen Akten und Berichte ein deutlich positionelles Gepräge aufweisen. Gerade die Dokumentation des Gespräches war es nämlich, die in Regensburg zum Zankapfel wurde und an der die Verhandlungen schließlich scheiterten. Daran zeigt sich nicht nur das gesteigerte Misstrauen aller Beteiligten, vielmehr bündelt die Geschäftsordnungsfrage – wie V. schön herausarbeitet – nur die unterschiedlichen Auffassungen des Gespräches: Ging es den Protestanten darum, ihre Position mittels des Gesprächs auf dem anschließenden Reichstag bekenntnisartig zu präsentieren (326), so wollten die römischen Vertreter unter Führung des kaiserlichen Hofkaplans Malvenda schließlich nur noch Material für eine vom Konzil durchzuführende Lehrverurteilung sammeln (344 f.388 f.). Dementsprechend konnte keiner der anderen Seite die Deutungshoheit über das gesprochene Wort überlassen. Dabei spielte auch der ungeklärte Charakter der Versammlung eine Rolle: Sollten es Geheimverhandlungen im kleinsten Kreis sein – so die Strategie des Kaisers seit 1530 (vgl. 30 f.176) – oder ein öffentliches Ereignis vor aller Augen – so die Auffassung der Pro­-tes­tanten? Es ist also kein Zufall, dass das Gespräch an dem Dissens über die Formalia zerbrach. Gleichwohl wurde auch über theologische Fragen diskutiert. Die Beiträge, die Malvenda auf der einen und Bucer auf der anderen Seite zur Frage der Rechtfertigungslehre vorlegten, zeigen, wie sich die kontroverstheologischen Fronten inzwischen verhärtet hatten. Gestritten wurde vor allem über die Vorbereitung der Rechtfertigung durch Werke, die Glaubensgewissheit und die Vollkommenheit der Gläubigen (vgl. vor allem 368–373).
Die nötigen Differenzierungen führten zu uferlosen Darlegungen und Gegendarlegungen, die sich kaum besser als mit Brenz’ Worten beschreiben lassen: Schon allein bei der Frage der Rechtfertigungslehre sei man in ein Meer geraten, »und wir sehen keinen Hafen« (426, Anm. 722). Dabei waren nicht allein die strittigen Materien das Problem. Zu Recht hält V. fest: »Ein gemeinsames Entscheidungskriterium für die Wahrheit einer theologischen Aussage war offenkundig nicht mehr zu gewinnen.« (419) Durch die ausführliche Darbietung des Materials gibt V. interessante Einblicke in die innerkonfessionelle Lehrentwicklung. Immer wieder lenkt er die Aufmerksamkeit auf die zweistufigen Modelle der Rechtfertigungslehre (vgl. 36 f.364 u. ö.), die seit Ende der 30er Jahre bis zum Interim eine so wichtige Rolle spielten; diese einmal im Zusammenhang zu untersuchen, wäre – nebenbei bemerkt – ein lohnenswertes Unterfangen. Auch die Verschiebungen in der Lehre von der Heilsgewissheit – V. konstatiert verschiedentlich eine gesetzliche Note in Bucers Lehrfassung (z. B. 366) – bedürften einer genaueren Betrachtung.
Ein Nachteil der strikt chronologischen Darstellung ist, dass sich die theologischen Partien, in denen die Positionen teilweise umfangreich dargestellt werden, nur schwer auffinden lassen. Das wird der Rezeption des Werkes hinderlich sein – zumal es kein Sachregister besitzt. Zudem ist der Umfang der Darstellung nicht sehr leserfreundlich. Das Bemühen um vollständige Dokumentation der Quellenbefunde scheint bisweilen an die Stelle einer Entscheidung über das wirklich Bedeutende getreten zu sein. Immer wieder werden auch Fäden verfolgt, die für den Gang der Dinge wenig oder nichts austragen (z. B. 215–219.305–315.378–384.421–429). Eine deutlichere Akzentsetzung wäre wünschenswert gewesen; so dominiert am Ende der Eindruck, den man bereits vor der Lektüre hatte: dass nämlich das Regensburger Religionsgespräch »keinen Höhepunkt, wohl aber eine beachtenswerte Wegstation« darstellt (517).
Doch wer sich für die kontroverstheologische Situation um die Mitte des 16. Jh.s interessiert oder mit der Etablierung der Konfessionen und konfessionellen Theologien beschäftigt, wird in der penibel gearbeiteten und mit einem umfangreichen Quellenanhang, der allein schon eine immense Editionsleistung darstellt, versehenen Arbeit viele Ansatzpunkte finden. Darüber hinaus führt die Arbeit zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass es angesichts eines »fundamentalen religiösen Dissens[es]« gar keine andere Möglichkeit gab, als »Modelle des Zusammenlebens zu entwickeln, die diesen Dissens ertrugen« (5). Insofern bietet die Studie auch instruktive Einblicke in die Ursprungssituation des modernen, weltanschaulich neutralen Staates.