Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1119-1121

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Zugmann, Michael

Titel/Untertitel:

»Hellenisten« in der Apostelgeschichte. Historische und exegetische Untersuchungen zu Apg 6,1; 9,29; 11,20.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XII, 497 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 264. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-149896-1.

Rezensent:

Joachim Jeska

Hinter der Bezeichnung »Hellenisten« verbergen sich in der Apos­telgeschichte sehr verschiedene Gruppen (Judenchristen, Juden, Nichtjuden), so dass in der Forschung immer wieder die Frage diskutiert wird, was diese »Hellenisten« eigentlich auszeichnet und eint. Ein solches Forschungsvorhaben wird dadurch erschwert, dass sie im zweiten Werk des Lukas an nur drei Stellen erwähnt werden, von denen eine zudem textkritisch umstritten ist (Apg 11,20). Michael Zugmann nimmt sich in seiner von Christoph Niemand betreuten und im Jahr 2008 von der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz angenommenen Dissertation dieser Fragen an und versucht, sie durch ein sehr differenziertes Bild der griechischsprachigen antiken Welt, besonders des hellenistischen Judentums, zu beantworten, um schließlich das Profil der judenchristlichen »Hellenisten« in Apg 6 herauszuarbeiten.
Eine Wortfeldanalyse im Bereich der profanen Gräzität bis in die Zeit des Neuen Testaments (11–24) ergibt zunächst, dass es für ἑλληνισθής keinen Beleg gibt. Z. kann aber zeigen, dass alle möglichen Derivate von ἑλληνίζειν Nichtgriechen bezeichnen, die Griechisch sprechen. Ob man dann allerdings so weit gehen kann zu konstatieren, dass ἑλληνισθής schon vor dem Neuen Testament eine »gebräuchliche Vokabel zur Kennzeichnung griechischsprachiger Nichtgriechen« war (21), kann zumindest gefragt werden. Im Rahmen einer knappen historischen Skizze (25–44) weist Z. darauf hin, dass die Hellenisierung im antiken Mittelmeerraum zwar unterschiedlich stark ausgeprägt, aber doch weit verbreitet war – die griechische Sprache fungierte als Schlüssel zur Kultur des Hellenismus.
Anhand von drei Beispielen erörtert Z. die Spannbreite der Hellenisierung im paganen Bereich (45–88). Im altrömisch-italischen Bereich lasse sich eine erstaunliche Griechenfreundlichkeit ausmachen, zugleich aber eine ambivalente Haltung der Römer, welche die kulturellen Leistungen der Griechen schätzten und dennoch deren negative Eigenschaften betonten. Im seleukidischen Syrien sei ein Antagonismus zwischen einheimischen »Syrern« und »Hellenisierten« zu erkennen, wobei es insbesondere in und um Antiochia viele griechischsprachige Syrer gegeben habe. Schließlich ließen sich im ptolemäischen Ägypten wenige hellenisierte Einheimische, allerdings etliche hellenisierte orientalische Einwanderer nachweisen. Interessanterweise fungiere »Hellene« dabei sogar als Fremd- und Selbstbezeichnung.
Gegenüber diesen eher knappen Hinführungen fällt der Umfang des folgenden Kapitels ins Auge, das die zentralen historisch-soziologischen Erörterungen der vorliegenden Arbeit liefert – mehr als 200 Seiten widmet Z. der Darstellung der Begegnung von Judentum und Hellenismus (89–294). Insgesamt, das wird sein Opus zeigen, neigt er dabei der Forschungsposition von Martin Hengel zu, der sein wichtigster Gewährsmann ist: Z.s Ausführungen lassen deutlich werden, dass er das Judentum der hellenistisch-römischen Zeit wie der Tübinger Neutestamentler insgesamt als »hellenistisches Judentum« bezeichnet, in dem es keine prinzipielle Antithese, sondern nur graduelle Unterschiede zwischen einem liberalen Diasporajudentum und einem gesetzestreuen palästinischen Judentum gebe (91). Auf einen geschichtlichen Überblick der Be­gegnung von Judentum und Hellenismus vom 10. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. und Erörterungen über die »Griechen« im Alten Testament (95–126) folgen umfassende Darstellungen des griechischsprachigen Judentums in der Diaspora (Ägypten, Kyrenaika, Syrien-Antiochia, Kleinasien, Zypern: 126–205) und in Palästina (205–294).
Z. diskutiert dabei vor allem literarische und epigraphische, aber auch numismatische Zeugnisse und entwickelt ein Gesamtbild, das den Einfluss der griechischen Sprache und Kultur sehr hoch bewertet. So habe in einem multilingualen Kontext auch Jesus wohl Griechisch gesprochen (225–227), und die hellenisierten Städte im syro-palästinischen Raum hätten sprachlich und kulturell Einfluss auf die jüdische Umgebung genommen, wenngleich der Kontakt nur schwer nachweisbar sei (253–257). Für die Frage nach den »Hellenisten« in Apg 6 ist freilich die Rückwanderung von Juden aus der Diaspora in das Mutterland besonders interessant (vgl. Apg 6,9, wo Z. zwei landsmannschaftliche Synagogengemeinden ausmacht: 274). Als Motiv der Rückkehr nach Jerusalem hebt Z. vor allem die »Liebe zum mosaischen Gesetz und zum Tempel« hervor (281) und veranschlagt die Rolle dieser s. E. nicht eben »liberalen« Rückwanderer sehr hoch (die Beweislast trägt in erster Linie die Theodotos-Inschrift, die Z. vor 70 n. Chr. datiert). Wie stark hingegen ihre universalistische Prägung aus der Diaspora war, bleibt weitgehend undiskutiert. So wird schließlich mit Martin Hengel Jerusalem als geistig-geistliches Zentrum auch des hellenistischen Judentums im 1. Jh. skizziert (293).
Auf dem Fundament dieser Erörterungen referiert Z. nun sehr knapp das theologische Profil der jüdischen »Hellenisten« in Apg 9,29 (295–299) und erarbeitet ausführlich das der judenchristlichen »Hellenisten« in Apg 6,1 (300–406). Dabei ist er insgesamt recht zuversichtlich, im Bericht des Lukas in Apg 6,1–8,2 auf historisch zuverlässige Informationen zu stoßen. In den »Sieben« sieht er das »Leitungsgremium der hellenistischen Judenchristen« in Jerusalem (308), und er beschreibt, dass die Relativierung von Tempel und Tora durch Stephanus den Widerstand der tempelliebenden, toratreuen jüdischen »Hellenisten« provoziere. Seine Erwägungen zur redaktionellen Tätigkeit des Lukas (vor allem erkennbar in der Parallelität der Vorwürfe in Apg 6,11–14 und 21,21.28) führen ihn dann allerdings dazu, den Ausgangspunkt der Torakritik in der paulinischen Mission zu sehen und den Ursprung der Tempelkritik in der Theologie der Stephanusgruppe. Lukas habe diese beiden in seinem Geschichtswerk miteinander kombiniert (315–333) und außerdem das Tempelwort aus Mk 14,58 zutreffend in den Prozess des Stephanus eingetragen, weil es jene »Hellenisten« waren, die in Tod und Auferstehung Jesu den »mit Händen errichteten« Tempel endzeitlich überboten sahen – und zwar im Erhöhten und in der Gemeinschaft der Jesusanhänger (333–357); so führt Z. am Ende seines Werkes auch die kulttypologische Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25–26a, die früheste Präexistenzchristologie und die frühe Heidenmission auf die hellenistischen Judenchristen zurück (377–403). Die Stephanusrede (Apg 7,2–53) zieht er schließlich heran, um die Theologie der judenchristlichen »Hellenisten« zu entfalten. Auf jüngere Untersuchungen zur lukanischen Provenienz dieses Summariums der Geschichte Israels geht er nicht ein, weil er die »Predigt« im »Umkreis von Stephanus« ansiedelt (357–371). So arbeitet er heraus, dass sie die von ihm zuvor konstatierte Theologie unterstreiche: Die positiven Bezugnahmen auf den Tempel stammten aus dem Kreis der jüdischen »Hellenisten« (z. B. eine positive Wertung des Tempelbaus unter Salomo), und erst die hellenistischen Judenchristen hätten schließlich den Tempel relativiert, indem sie ihn als »mit Händen errichtet« qualifizierten. Dass aber die gesamte Stephanusrede eine solche den »Hausbau« für Gott relativierende und universalisierende Geschichtsdarstellung auszeichnet, bleibt ebenso unbeachtet wie die Frage nach der Verortung dieses Textes im lk Gesamtwerk.
Das Buch schließt mit einer knappen Zusammenfassung sowie ausführlichen Registern und Indizes (fast 100 Seiten). Für die Frage nach den »Hellenisten« und damit der Geschichte des Urchristentums bietet das gut zu lesende und klar gegliederte Opus viel grundlegendes Material und so manchen Diskussionsstoff.