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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1101-1103

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Paganini, Simone

Titel/Untertitel:

»Nicht darfst du zu diesen Wörtern etwas hinzufügen«. Die Rezeption des Deuteronomiums in der Tempelrolle: Sprache, Autoren und Hermeneutik.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2009. XIII, 329 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für Alt­orientalische und Biblische Rechtsgeschichte, 11. Geb. EUR 54,00. ISBN 978-3-447-05915-2.

Rezensent:

Karin Finsterbusch

In den Textfunden von Qumran wurden zwei in herodianischer Zeit gefertigte (nicht ganz vollständig erhaltene) Exemplare der sog. Tempelrolle gefunden (wahrscheinlich ist auch die in frühhasmonäischer Zeit geschriebene Hs 4Q524 ein Exemplar der Tempelrolle). Die Tempelrolle verwendet Stoff aus den Büchern Ex bis Dtn; in ihrem letzten Teil (Kol 45–66) findet sich eine große Anzahl der dtn Gesetze, allerdings formuliert als direkte Rede Gottes an das Volk; Mose spielt keine Rolle (in der Welt des Deuteronomiums lehrt Mose die ihm am Horeb von Gott mitgeteilten Gesetze Israel in Moab). Damit stellt sich die Frage nach der Rezeption des Deuteronomiums in der Tempelrolle.
P. analysiert in seiner im Wintersemester 2008/09 von der Universität Innsbruck angenommenen Habilitationsschrift die Ko­lum­nen 45–66 der Tempelrolle im Vergleich zu Dtn 12–26 (ein um­fassender und systematischer Vergleich der beiden Gesetzestexte fehlte bislang). Sein Ziel ist es, aufgrund von Beobachtungen der sprachlichen und inhaltlichen Besonderheiten der Werke Schlussfolgerungen zu ziehen, die »ein neues Licht auf die Rechtshermeneutik der Tempelrolle werfen sowie auf die Funktion des Deuteronomiums für die Autorengruppe der Tempelrolle in vorqumranischer Zeit bzw. auf die Motive der Rezeption eines geänderten Deuteronomiums innerhalb der Tempelrolle für die Qumran-Gemeinde« (2).
In einem ersten Teil (A. Einleitende Bemerkungen, 1–30) stellt P. zunächst methodische Überlegungen an. Unter anderem geht er hier kurz auf sein Verständnis des Dtn ein (er nimmt mit E. Otto an, dass auf der Ebene des Pentateuchs Dtn 12–26 das Bundesbuch auslegt), auf die Handschriftenbefunde der Tempelrolle und auf den Masoretentext des Deuteronomiums als Vergleichsgrundlage; zu­dem erläutert er seine Arbeitshypothese, die Tempelrolle als ein kohärentes Werk zu verstehen.
Im zweiten Teil (B. Der Vergleich zwischen Deuteronomium und Tempelrolle, 31–238) vergleicht P. abschnittsweise den Text der Tempelrolle mit dtn Parallelüberlieferung. Hilfreich ist, dass die Texte der Tempelrolle, MT-Dtn und LXX-Dtn (und wenn vorhanden, auch Text der Dtn Hss vom Toten Meer) in Originalsprache und in Übersetzung untereinander angeführt werden. Die Texte werden dann kurz analysiert und der Befund wird am Ende in einem Unterabschnitt ausgewertet. P. kann hier viele interessante Phänomene der Rezeption zeigen.
Auf einige wenige Punkte soll etwas ausführlicher eingegangen werden: In TR 56,20 f. wird eine Vorschrift des dtn Königsgesetzes charakteristisch geändert: Für den neu installierten König soll »diese Tora« (MT Dtn 17,18: »eine Kopie dieser Tora«, d. h. der dtn Tora) geschrieben werden. Aus dem Kontext geht eindeutig hervor, dass damit die folgenden Vorschriften über das Königsrecht in der Tempelrolle gemeint sind. Dies zeigt, so P. zu Recht, das Selbstverständnis der Tempelrolle als »Tora«.
Zu TR 56,1–8a: Wenig überzeugend ist P.s Deutung der zweimaligen Ersetzung des dtn רבד in Dtn 17,10.11 durch הרות in TR 56,3.7: »Das Vorgehen der Richter in der Tempelrolle ist insofern besser, als nicht nur ein רבד gesprochen, sondern eine הרות verkündet wird. Diese Unterscheidung ist für die Rechtshermeneutik der Tempelrolle, die sich selbst gegenüber dem Deuteronomium als Tora profiliert und ihrem Gegenüber nur die Rolle eines einfachen רבד überlässt, wesentlich« (131); an anderen Stellen spricht P. von einer »Degradierung« des Deuteronomiums zu einem רבד (136). Jedoch steht in Dtn 17,11 synonym zu רבד einmal das Nomen הרות; in der TR 56,3 steht synonym zu הרות einmal das Nomen רבד. Der Sprachgebrauch ist hier wie dort nicht ver­einheitlicht, das stützt die These der »Degradierung« nicht.
Schließlich noch kurz zu TR 54,5b–7. Hier wird Dtn 13,1 zitiert. In Dtn 13,1 wechselt die Anrede zwischen »Ihr« und »Du«, die Tempelrolle gebraucht hier (wie sonst auch) ausschließlich die 2. Person Singular (»Alle Worte, welche ich dir heute befehle, sie sollst du beachten, um [sie] auszuführen. Nicht darfst du hinzufügen zu ihnen [etwas], und nicht darfst du wegnehmen von ihnen [etwas]«). P. deutet die Stelle wie folgt: »Adressat ist nicht mehr wie im Buch Deuteronomium das Volk, sondern – möglicherweise – Mose, was eine Infragestellung seiner Autorität in der Auslegung der Sinai-Tora im Land Moab bedeutet und somit die Überlegenheit der Gesetzgebung der Tempelrolle impliziert« (100). Und weiter: »Die nun auf Mose bezogene Kanonformel der Tempelrolle untersagt ihm, irgendeinen Befehl Gottes zu verändern. Das aber ist gerade, was Mose im Land Moab tut, wenn er das Bundesbuch auslegt, verändert und schließlich in Gestalt des Deuteronomiums niederschreibt. Die mosaische Auslegung kommt in den Augen der Autoren der Tempelrolle somit einem Verstoß gegen den unmissverständlichen Gottesbefehl von TR 54,5b–7 gleich. … Es handelt sich dabei aber nicht um die Ablehnung der deuteronomischen Vorschriften, … sondern um den Bruch mit Mose als dem Begründer der einzigen rechtmäßig verschrifteten bzw. maßgeblichen Schriftauslegung« (288 f.). Aber ist es wahrscheinlich, in TR 54,6 f. ausnahmsweise mit einer Anrede an Mose zu rechnen? Im Text selbst spricht aus meiner Sicht nichts dafür, was die Annahme einer solchen einmaligen Ausnahme in der Tempelrolle rechtfertigen würde.
Im letzten Teil (C. Systematische Fragestellungen, 239–301) bündelt P. seine Ergebnisse und stellt verschiedene Überlegungen zum Sitz im Leben der Tempelrolle, zur Bedeutung für die qumranische Gemeinschaft und zur Rechtshermeneutik der Tempelrolle an. P. kann zeigen, dass die Autoren der Tempelrolle in der Gesetzgebung des Deuteronomiums eine »Systematisierung« durchführen, wobei der ausschlaggebende Gesichtspunkt der des Priesters innerhalb des neu zu bauenden Tempels ist, der nach außen auf das ganze Land schaut (252.254). In Bezug auf die Datierung geht P. von der Beobachtung aus, dass die Tempelrolle die klare Trennung zwischen Königtum und Priestertum legitimiert. P. versteht dies als Gegenreaktion zu den Makkabäern/Hasmonäern und nimmt also als Entstehungszeit die Zeit des Intersacerdotiums (159–152 v. Chr.) oder die hasmonäische Zeit an (268 f., wobei er auf die Schwierigkeit, eine solche späte Datierung nicht mit der Hs 4Q524 und dem freien Gebrauch des Tetragramms in Einklang bringen zu können, nicht eingeht). Die Frage nach der Bedeutung der Tempelrolle für die qumranische Gemeinschaft beantwortet P. wie folgt: »Die Tempelrolle will und kann mit ihren Gesetzen nicht die Vollständigkeit der einzelnen Bereiche des Gesellschaftslebens behandeln und konzentriert sich deshalb auf die in ihrer Weltanschauung notwen­-digs­ten Aspekte. Sie ist somit Halacha und trifft insofern mit perfekter Ge­nauigkeit die Grundgedanken des Yahad, als die Tempelrolle das Deuteronomium entscheidend revidiert, die Rolle des Mose als Ausleger der Tora verwirft und die Position des Priesters derart hervorhebt, dass dieser sogar über dem König steht. Ohne sich verstellen zu müssen, konnte man sich also mit dem Ansatz der Tempelrolle identifizieren, von dem, was als zwingend autoritativ galt, abzuweichen.« (277) Bei seinen rechtshermeneutischen Überlegungen geht P. vom »Setting« der Tempelrolle am Sinai (Ex 34) aus. Seine These ist: »Als aktualisierender Ausleger seiner eigenen Tora [dem Bundesbuch, vgl. 13] am Sinai tritt Gott in der Tempelrolle selbst an die Stelle der mosaischen Aktualisierung der Tora im Land Moab« (293). Eine entscheidende Rolle für P.s Argumentation spielt sowohl seine Ansicht, dass in der Tempelrolle Polemik gegen Mose deutlich spürbar werde (288, mit Bezug auf Tempelrolle 54,5b–7), als auch, dass die Tempelrolle sich in direktem Gegensatz zum Deuteronomium definiert (294, mit Bezug auf Tempelrolle 56,1–8a).
Abgesehen davon, dass sich in Bezug auf die Interpretation der beiden für die rechtshermeneutische Argumentation P.s wichtigen Stellen TR 54,5b–7 und TR 56,1–8a erhebliche Bedenken anmelden lassen (s. o.), überzeugt die Argumentation auch in anderer Hinsicht nicht: Die Tempelrolle präsentiert sich als Tora vom Sinai, inwieweit Gott aber Ausleger seiner eigenen (vor Ex 34 ergangenen) Tora sein soll, kann P. nicht deutlich machen (m. E. ist diese These nicht zu halten). P. hat wohl auch die absolute Autorität der Mosetora in der Gemeinschaft (vgl. etwa CD 16,1–6) und insbesondere die offensichtliche Vorliebe der Gemeinschaft für das Buch Deuteronomium (27 Hss ohne Reworked Pentateuch, nur von dem Psalter wurden in Qumran bekanntlich mehr Hss gefunden) unterschätzt: Im Hinblick auf diese Vorliebe scheint es mir ausgeschlossen anzunehmen, dass die Gemeinschaft die Tempelrolle als Polemik gegen die mosaische Autorität verstanden haben könnte.
P. hat eine interessante Monographie vorgelegt. Sie wird in künftigen Diskussionen bei Fragen der Rezeption des Deuteronomiums und der Rechtshermeneutik der entsprechenden Schriften der Zeit des Zweiten Tempelzeit zweifellos eine wichtige Rolle spielen.