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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1094-1096

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Becking, Bob, and Dirk Human [Eds.]

Titel/Untertitel:

Exile and Suffering. A Selection of Papers Read at the 50th Anniversary Meeting of the Old Testament Society of South Africa OTWSA/OTSSA, Pretoria August 2007.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2009. XVII, 280 S. gr.8° = Oud­testamentische Studiën, 50. Lw. EUR 103,00. ISBN 978-90-04-17104-6.

Rezensent:

Jörn Kiefer

Wie immer bei Sammelbänden wird jede Leserin, jeder Leser die eigenen Interessen in den Einzelbeiträgen in unterschiedlichem Maße repräsentiert finden. Bei mir hatte der Titel Neugier auf neue Erkenntnisse über historische Hintergründe und biblische Deutungen des Exilsdaseins Israels geweckt. Die Beiträge betrachten dieses Thema allerdings aus sehr unterschiedlichen Perspektiven – oft streifen sie es nur.
G. de Villiers bietet Auslegungen der Garten-Eden-Erzählung. In einer Nebenbemerkung deutet sie zwar an, dass in der Vertreibung aus dem Garten auch Israels Exil abgebildet sein könnte, favorisiert dann aber eine individualisierende und psychologisierende Deutung: Gen 2–3 als philosophische Wegweisung in einer von Verlust gekennzeichneten Welt. Ob man diese menschliche Erfahrung mit de Villiers als »Exilserfahrung« beschreiben sollte, ist fraglich.
J. Le Roux skizziert die erste deuteronomistische Redaktion des Pentateuchs. Die große Mose-Rede des Dtn sei bewusst auf die judäischen Exilanten des 6. Jh.s zugeschnitten, so als würden sie mit Israel am Horeb stehen und Antwort bekommen auf die Fragen nach der Ursache der Katastrophe (das Goldene Kalb als Urbild fremder Götter) und nach der Zukunft (der Einzug ins Gelobte Land trotz alledem).
M. Köckert beschreibt das alttestamentliche Bilderverbot als Ergebnis eines Prozesses. Nachdem bei der Tempelzerstörung das kultische JHWH-Bild verloren gegangen sei, habe man in Juda – ähnlich wie es die Sonnenscheibe von Sippur bezeugt – Symbole anstelle eines Kultbildes gesetzt. Theologisch legitimiert habe man diese Entwicklung mit der »Exils«-Erfahrung eines Gottes, der sein Angesicht verborgen hat.
L. J. M. Claassens will am Beispiel von Jes 42 zeigen, wie nach den – wie sie es nennt: »traumatischen« – Erfahrungen des Exils die Rede von Gott einen anderen Klang bekommen konnte. Neben das Bild vom maskulin-kriegerischen Retter trete die feminin-mütterliche Rettergestalt, und das Lied vom Gottesknecht rede von einer Mächtigkeit Gottes ganz anderer Art. Darin sei Deuterojesaja ein typisches Stück »survival literature« in Krisenzeiten. Claassens behandelt Exil und Krise wie austauschbare Begriffe.
Aus den Überlegungen von H. Bosman zu Jes 51 ergibt sich eine wichtige Schlussfolgerung für die Exilsthematik: Die Exodus-Motive müssen nicht einseitig als Ausdruck der Hoffnung auf Rück­kehr nach Juda gewertet werden. Laut Bosman ist der »neue Exodus«, genau wie die »neue Schöpfung«, eine Metapher für JHWHs rettendes Eingreifen – ob nun im babylonischen Exil oder in Juda. Nur in einer Fußnote wird problematisiert, dass die Bibel keine historische Beschreibung des babylonischen Exils bietet. Allerdings sind die historischen Umstände rekonstruierbar; man sollte deshalb nicht unreflektiert vom »Leiden« oder »Trauma« des Exils reden, was auch Bosman leider nicht vermeidet.
E. Peels trägt Theorien über die Gedalja-Episode in Jer 41 f. zusammen. Exilstheologisch relevant ist seine These, dass der (ursprünglich »säkulare«) Bericht aus theologischem Interesse in das Jeremia-Buch eingefügt worden sei. Eine Gruppierung im babylonischen Exil (»gola-party«) habe deutlich machen wollen, dass die Zukunft unter keinen Umständen im zerstörten Juda liege, sondern der erhoffte Neuanfang nur in und bei der Exilsgemeinde (Gola) zu erwarten sei.
R. de Hoop vergleicht die Beurteilung des babylonischen Exils im hebräischen und griechischen Text des Jeremia-Buches. Markante Unterschiede stellt er nur in Einzelheiten fest. So taucht die Bezeichnung Nebukadnezzars als »mein (= Gottes) Knecht« nur im hebräischen Text von Jer 25,9 auf. Ein palästinischer Editor des 3. Jh.s v. Chr. habe hier seine Überzeugung eingetragen, dass Gott die Fäden der Geschichte in seiner Hand behalte.
Für G. Kwakkel ist die im Hosea-Buch angesagte »Rückkehr nach Ägypten« nicht nur eine symbolische Beschreibung der Deportation nach Assyrien, sondern Echo einer tatsächlichen Emigrationsbewegung nach Ägypten. Dennoch behalte sie auch Symbolcharakter: Wer nach Ägypten zurückkehrt, macht die Heilsgeschichte rückgängig. Kwakkel will diese Extremdeutung für Hos 9 aufrecht erhalten, obwohl die »Rückkehr nach Ägypten« im Hosea-Buch sonst durchaus positive Folgen hat.
In K. Spronks Aufsatz über »perverse delight« im Alten Testament geht es zwar um Texte vor dem Hintergrund von Zerstörung, Vertreibung und Deportation, das Exil als solches wird dabei aber nicht reflektiert.
E. Talstra diskutiert alttestamentliche Texte, die von Gottes Emotionen angesichts von Zerstörung und Zerstreuung Israels reden. Nur ansatzweise reflektiert er dabei auch die Rede vom Exil als theologische Deutung, die nicht mit der tatsächlichen demographischen und materiellen Situation gleichgesetzt werden darf.
B. Becking dagegen hinterfragt das traditionelle Klischee vom babylonischen Exil als Leidenszeit. Er führt dieses Zerrbild auf eine falsche Einschätzung der Situation der Exilanten und auf die klassische Interpretation von Ps 137 zurück. An beiden Punkten leistet er Aufklärungsarbeit. Becking weist auf epigraphisches Material hin, aus dem sich ablesen lässt, dass die materiellen Lebensbedingungen der Exilanten durchaus erträglich waren. Dazu passt auch Ps 137: Das hier angesprochene Leiden ist nicht physischer, sondern psychologischer und theologischer Natur. Thema der Klage sind nicht Hunger oder Unterdrückung, sondern vielmehr die Fremdheit, also die ambivalente Gefühlslage gegenüber dem Leben im Exil.
Während bei Becking »Exil« also im herkömmlichen Sinne das Leben im fremden Land bezeichnet, bespricht Y. Gitay unter der Überschrift »The Poetics of Exile and Suffering« allein die Zerstörung Jerusalems. Die Tatsache, dass am Gedenktag der Tempelzerstörung in den jüdischen Gottesdiensten nicht 2Kön 25, sondern die Klgl gelesen werden, erklärt er mit der Kraft der Poesie, Gefühle und Empathie zu wecken und damit historische Ereignisse als gegenwartsrelevante Phänomene abzubilden.
L. Jonker mischt sich in die Diskussion um den Schluss der Chronikbücher ein, der die judäische Exilszeit als 70-jährige Sabbatruhe des Landes deutet. Er widerspricht der These, der Chronist habe den »Mythos vom leeren Land« begründen wollen. Mit nachvollzieh­baren, an T. Willi und S. Japhet angelehnten Argumenten zeigt Jonker, dass nicht die Exilszeit, sondern die mit der persischen Verwaltung angebrochene neue Epoche im Fokus der chronistischen Darstellung steht. Die persische Fremdherrschaft solle nicht als fort­gesetztes Exil, sondern als prophezeiter, also gottgewollter Neu­beginn verstanden werden.
F. Klopper zieht Linien zwischen biblischen Klagen, afroamerikanischen Spirituals und Gedichten über das Massaker vom Tianmen-Platz. Um »Exil« geht es dabei höchstens im Sinne einer allgemeinen Metapher menschlicher Leiderfahrung.
Auch im Aufsatz von G. West, in dem er die Übertragung biblischer Exilstheologie auf die südafrikanische Gesellschaft problematisiert, wird deutlich, wie wenig klar der Begriff »Exil« in der biblischen Theologie gefasst ist. Oft ist er nur noch eine Chiffre für eine Notsituation. Eine klare Unterscheidung zwischen theologischen Konzepten und historischer Wirklichkeit des Exils bzw. der Diaspora habe ich – wie so oft in der alttestamentlichen Forschungsliteratur – auch in diesem Sammelband vermisst.